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„Tischa BeAv“: Die Trauer um den Verlust des Tempels

von Johannes Gerloff

JERUSALEM, 01.08.2017 – Am 9. Tag des hebräischen Monats Av wurde im Jahr 70 unserer Zeitrechnung der so genannte Zweite Tempel, der nach dem Exil in Babylon gebaut und von König Herodes dem Großen prunkvoll erweitert worden war, von den Römern zerstört. Zuvor war am selben Tag im Jahr 586 vor Christus der Erste Tempel, den der israelitische König Salomo gebaut hatte, von den Babyloniern zerstört worden. Die jüdische Tradition legt auf den 9. Av, hebräisch „Tischa BeAv“, schließlich noch die Entscheidung Gottes, die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten nicht unmittelbar in das verheißene Land Kanaan ziehen zu lassen. Vierzig Jahre lang mussten die zwölf Stämme durch die Wüste irren, bis eine ganze Generation gestorben war.

Diese biblischen Ereignisse wären eigentlich Grund genug, Tischa BeAv zu einem Tag der nationalen Trauer für das jüdische Volk werden zu lassen. In diesem Jahr fällt Tischa BeAv auf den 1. August. Orthodoxe Juden fasten an diesem Tag, nachdem sie sich zuvor wochenlang, genauer seit dem 17. Tammus, nicht rasiert haben – was als Zeichen der Trauer gilt. Am 9. Av selbst ist neben Essen und Trinken auch das Baden, die Verwendung von Kosmetika, der Geschlechtsverkehr und das Tragen von Lederschuhen verboten. Um der Trauer und dem Leid Ausdruck zu verleihen, soll man, der Tradition zufolge, auf einem niedrigen Stuhl oder Hocker sitzen, nicht Arbeiten und auch nicht die Torah studieren, weil das eine Quelle der Freude ist. Nur die Klagelieder, das Buch Hiob, die Flüche im 3. Mose (26,14-42) und einige Kapitel des Buches Jeremia dürfen gelesen werden. Am Vorabend des 9. Av bleiben im modernen Staat Israel Restaurants und Vergnügungsstätten geschlossen.

Weitere Ereignisse für das Volk Israel am 9. Av

Doch auch in nachbiblischer Zeit fielen ausgerechnet auf den 9. Av eine ganze Reihe weiterer traumatischer Ereignisse für das Volk Israel. Im Jahr 135 fiel Beitar in Judäa, unweit von Bethlehem gelegen, die letzte Festung des Bar Kochba im Aufstand gegen die Römer. Auf den Tag genau ein Jahr später errichtete der römische Kaiser Hadrian einen Tempel zu Ehren des heidnischen Gottes Jupiter auf dem Tempelberg, nachdem er Jerusalem in „Aelia Capitolina“ umbenannt und den Juden den Zugang zur Stadt bei Todesstrafe untersagt hatte. 1096 verübten die Kreuzfahrer auf ihrem Weg ins Heilige Land am 9. Av Pogrome in Speyer und Worms. 1492 sollen die Juden genau an diesem Tag aus Spanien vertrieben worden sein. Am Tischa BeAv des Jahres 1914 begann der Erste Weltkrieg, in dessen Verlauf insgesamt 134.000 jüdische Soldaten fielen, davon 12.000 aus Deutschland. Und orthodoxe Juden behaupten heute, dass am 9. Av die ersten Züge in Richtung Auschwitz gefahren sein sollen.

Ursprünglich hatte die israelische Regierung die Räumung der jüdischen Siedlungen aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 auf Mitte Juli gelegt. Da aber zu den in der Trauerzeit zwischen dem 17. Tammus und dem 9. Av verordneten Trauerbräuchen auch das Verbot gehört, etwas Neues zu kaufen, wäre ein Umzug für orthodoxe Juden aus religiöser Sicht unmöglich gewesen. Dass der Termin dann um einen Monat, ausgerechnet auf den Vorabend des geschichtsträchtigen Tischa BeAv verschoben wurde, zeigt, wie weit manche Regierungsplaner in Israel von den Sitten und Gebräuchen ihres eigenen Landes entfernt leben und denken. Die Gebete von Zigtausenden an der Westmauer in Jerusalem und in den Synagogen ganz Israels am Tischa BeAv des jüdischen Jahres 5765 seit Erschaffung der Welt – im bürgerlichen Kalender war es der 14. August 2005 – konzentrierten sich selbstverständlich auf den Gazastreifen, der übrigens zum biblischen Stammesgebiet Juda gehört. Da die Aufgabe dieser Ortschaften nicht etwa Frieden für das jüdische Israel brachte, sondern eine zunehmende Bedrohung durch Raketen, die mittlerweile das ganze Land erreichen, und mehrere kriegerische Auseinandersetzungen mit radikal-islamischen Gruppen, ist das Ganze eine offene Wunde im kollektiven Bewusstsein der israelischen Öffentlichkeit.

 

Foto: Flash90/Yonatan Sindel

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