(Kleine) Helden ohne Umhang (39): Michal Lavie – die Zwölfjährige, die um ein neues Herz kämpfte
von Nadine Haim Gani
JERUSALEM, 22.04.2022 – Michal Lavie lernte schon in jungen Jahren, nichts als selbstverständlich anzusehen. Schon gar nicht ihre Gesundheit. Michal, ein bezauberndes kleines Mädchen und die zweite Tochter von Mama Tamar und Papa Erez, wurde mit einem Herzfehler geboren. Während einer Notoperation erlitt sie als 10-Jährige einen Schlaganfall. Mehr als einmal sah Michal dem Tod in die Augen, doch das tapfere Kind erkämpfte sich Schritt für Schritt ihre Unabhängigkeit zurück. Es ist schwer zu glauben, was dieses Mädchen seit dem Tag ihrer Geburt durchgemacht hat, ohne dabei ihren Optimismus und ihren unglaublichen Überlebenswillen zu verlieren.
Mutige Kämpferin Michal
Michal wurde am 26. Juni 2008 in Rishon LeZion in Zentralisrael geboren. Sie hat eine große Schwester, Noa, und zwei kleinere Geschwister, Oriah und Guy. Das Mädchen kam mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt, doch das schien das bildhübsche Kind in ihren ersten zehn Lebensjahren nicht von einem aktiven und sportlichen Leben abzuhalten. Michal führte ein glückliches und anscheinend gesundes Leben. Sie widmete sich in ihrer Freizeit erfolgreich dem Tennis. Die ehrgeizige Zehnjährige sah fiebernd ihren Turnieren entgegen, bis das Schicksal sie einholte. Im Mai 2019 versagte Michals Herz.
Missglückte Not-OP
Sie wurde für eine lebensrettende Operation ins Tel Aviver Kinderkrankenhaus, das Schneider Medical Center, eingeliefert. In einer Not-OP versuchen die Ärzte, das Herz des Mädchens zu retten, doch leider erfolglos. Während der OP erlitt sie einen schweren Schlaganfall. Am Ende des Eingriffs wurde sie an eine lebenserhaltende Herzmaschine namens „Berlin Heart“ angeschlossen. Das Kunstherzgerät sollte Michal so lange am Leben erhalten, bis das passende Spenderherz für sie gefunden wurde. Für das Mädchen begann nicht nur eine lange und demoralisierende Wartezeit auf das Spenderherz, sondern auch eine unglaublich schwere Rehabilitation. Das Kind litt sehr an den Folgen des Schlaganfalls. Michal konnte weder sprechen noch laufen. Ihre rechte Hand war gelähmt. Die neurologischen und sensomotorischen Fähigkeiten der 10-Jährigen waren schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Ein großes Team von Physiotherapeuten kämpfte mit Michal, um alltägliche Handlungen wie Stehen und Gehen wieder zu erlernen. Logopäden arbeiten mit Michal im Bereich der Sprachtherapie. Michal erklärte dem israelischen Nachrichtensender N12, dass sie es nicht schaffte, die Worte und Buchstaben richtig zusammenzusetzen. Selbst wenn sie im Kopf verstand, was sie sagen wollte, konnte sie die Sätze nicht korrekt über ihre Lippen bringen. Die intensiven Trainings- und Therapieeinheiten machen ihr schwer zu schaffen. Doch das tapfere Mädchen kämpfte unaufhörlich. Mit bemerkenswerter Ausdauer und Geduld rang sie mit ihrem Schicksal und erreichte Schritt für Schritt ihre Mobilität zurück.
Lange Wartezeit und komplizierte Reha
Michal blieb an die 100 Kilo schwere Herz-Maschine „Berlin Heart“ angeschlossen, deren Batterien alle 20 Minuten aufgeladen werden müssen. So spazierte sie von Stromversorger zu Stromversorger innerhalb der Krankenhausmauern. Die Maschine erschwerte nicht nur die Rehabilitation des Mädchens, sondern machte es für das Kind unmöglich, das Krankenhaus zu verlassen. Des Weiteren kann die Technik des „Berlin“, wie ihn Michal kurzerhand nannte, zu schweren Komplikationen führen, was die Wartezeit auf eine Herztransplantation für Michal zu unglaublichem Leid machte. Sie erzählte dem Nachrichtensender N12: „Ich verstand nicht wirklich, was um mich herum geschah, doch kam ich zu einem Punkt, an dem das Leiden unmöglich zu ertragen war.“ Für Michal und ihre Familie begann eine schwierige Odyssee auf der Suche nach einem passenden Herz für das Mädchen. Die Wochen verstrichen und das lebensrettende Herz konnte innerhalb der Grenzen Israels nicht gefunden werden.
Die Hoffnung, in den USA ein Herz zu finden
Angesichts der Schmerzen ihrer Tochter trafen die Eltern nach vier Monaten die risikoreiche Entscheidung, mit Michal und „Berlin“ in die USA zu reisen. Der Familie war bewusst, dass die Reise für Michal, die sich in einem fragilen Zustand befand, lebensgefährlich war. Dennoch war es wohl ihre einzige Chance auf ein Spenderherz und ein weiteres gesundes Leben. Die Wartezeiten in den USA gelten als wesentlich kürzer als im kleinen jüdischen Staat, und so hing Familie Lavie die Hoffnung, ihre Tochter zu retten, an die Professoren des New Yorker Presbyterian-Hospitals. Kein anderes israelischen Kind hatte jemals die riskante Reise in ein fremdes Land unter diesen Umständen und in einem solchen gesundheitlichen Zustand gewagt.
Im August 2019 verabschiedeten sich die Krankenschwestern im Schneider Medical Center unter Tränen von ihrer tapferen Patientin und wünschten ihr alles Gute für die kommenden Stunden und Wochen.
Familie Lavie trat den lebensgefährlichen Flug mit einem vierköpfigen medizinischen Team und zwei Berlin-Herzmaschinen an. Die israelische Fluggesellschaft EL AL sperrte ein Viertel des Passagierflugzeuges für die kleine Michal ab. Im vorderen Teil des Flugzeuges saß die kleine Patientin mit ihrer Familie und ihren Ärzten, im hinteren Teil reguläre Fluggäste. Optimistisch blicken alle Beteiligten auf die kommenden Wochen in den USA, doch im Hintergrund erfasst sie die Angst, das lebenserhaltende Gerät „Berlin“ könnte während des Fluges versagen. Doch dank Gottes Hilfe erreichten siel unversehrt den New Yorker Flughafen.
Polizeieinsatz wie in Hollywood
Bei ihrer Landung in New York wurden die Israelis bereits erwartet: Ein Polizeikonvoi und Notarztwagen empfingen das Mädchen und fuhren sie umgehend ins Presbyterian-Krankenhaus. Die von der New Yorker Polizei koordinierten Straßensperren, die einem Hollywoodfilm gleich kamen, sorgten für ein problemloses Erreichen des Zielortes. Ein unglaubliches Sicherheitsaufgebot, um das Leben des jüdischen Mädchens zu retten.
Auf der Kinderstation hatte Michal einen wunderschönen Ausblick auf die amerikanische Metropole. Das amerikanische Ärzteteam begann umgehend mit den Tests und Untersuchungen. Binnen nur einer Woche befand sich Michal auf der Warteliste für ein Spenderherz. Weitere zweieinhalb Wochen später erhielt die Familie den Anruf, für den sie so lange gebetet hatten: Das passende Spenderherz für Michal wurde im Westen Nordamerikas gefunden!
Überglücklich erzählte Michal ihren Freunde in Israel die Neuigkeit. Dann würde sie, so Gott es will, endlich ihren monatelangen Begleiter, die Herzmaschine „Berlin“, loswerden. Das Mädchen sprudelte vor Freude. Nur 48 Stunden später wurde sie in den OP gefahren.
Riskante Herztransplantation
Nach langen Stunden des Wartens überbrachten die Ärzte den nervösen Eltern die Nachricht, dass während der Transplantation etwas schief gelaufen war. Das kleine Herz hat seine Funktion leider nicht wie erwartet problemlos aufgenommen. Michal wurde während des riskanten Eingriffes mehrfach wiederbelebt. Das neue kleine Herz war zu schwach, um Michals Körper ausreichend zu versorgen, und so beschloss das Professoren-Team, sie an ein Lebensunterstützungssystem namens ECMO anzuschließen. Bei der ECMO handelt es sich um einen sogenannten Membranoxygenator – eine Maschine, die teilweise oder in manchen Fällen sogar vollständig die Atemfunktion für den Patienten übernimmt. Technisch ist die ECMO mit einer Herz-Lungen-Maschine vergleichbar.
Trotz der schweren Komplikationen entschieden sich die Ärzte, die Herztransplantation zu vollenden. Das medizinische Team hoffte, dass Michals Körper das Spenderherz in den kommenden Stunden und Tagen annehmen würde.
Nur fünf Tage später wird Michal ein weiteres Mal in den OP-Saal geschoben, um die lebenserhaltende ECMO Maschine zu entfernen und dem neuen Organ die Möglichkeit zu geben, Michals Körper alleine zu versorgen. Die OP gelang. Michal atmete ohne „Berlin“ und ohne EMCO. Das kleine Herz allein schaffte es, den Körper der 10-Jährigen zu versorgen. Das Spenderherz wurde angenommen.
Auf die geglückte Transplantation folgten nun lange Wochen der Rehabilitation. Immer dabei Michals Eltern, die sie keine Sekunde aus den Augen ließen und jeden Moment den schweren Kampf ihrer Tochter zurück in ein normales Leben unterstützen. Die Angst um ihre Tochter, die Sorge um das Leben ihres Kindes, wurde für die tapferen Eltern immer wieder zu einer Zerreißprobe. Dennoch blieben sie stark für ihre kleine Michal. Die Tränen durften auf dem Weg zum Krankenhaus fließen, doch vor dem Töchterchen versuchten Mutter und Vater so optimistisch zu sein wie nur möglich, um ihrem Kind die Kraft zu schenken, die sie so dringend benötigte. Tamar und Erez sind die Helden hinter den Kulissen.
Endlich kam Michals großer Tag. Das Mädchen durfte das Krankenhaus verlassen und in die New Yorker Wohnung der Familie umziehen. Nach Monate langen Krankenhausaufenthalten, mehreren Operationen, einem Schlaganfall und einer Herztransplantation machte sich die mittlerweile 11-Jährige optimistischer denn je auf den Weg in ein neues, glückliches Leben.
Heimkehr nach Israel
Doch bis sich die Ärzte sicher waren, dass die Transplantation hundertprozentig geglückt ist und Michals Körper dem langen Rückflug zurück in die Heimat standhalten kann, blieben Michal und ihre Familie zur Rehabilitation noch in den USA. Nach vier langen Monaten erteilen die behandelten Ärzte im New Yorker Krankenhaus Michal und ihrer Familie die Erlaubnis, die Rehabilitation in Israel fortzusetzen. Im August 2020 erreicht Familie Lavie den Ben-Gurion- Flughafen bei Tel Aviv.
Ein ganzes Jahr, nachdem sie voller Hoffnung ihre geliebte Heimat verlassen hatten, betrat die Familie erneut israelischen Boden. Familie und Freunde warteten aufgeregt und voller Vorfreude am Flughafen auf die Rückkehr von Michal. Als das Mädchen endlich den Terminal verließ, waren die Freudentränen und die lauten Liebesbekundungen kaum zu übersehen oder zu überhören. Auf die so lange ersehnte Umarmung mussten die gerührten Angehörigen und Freundinnen aber noch einige Zeit warten. Michals Abwehrsystem war immer noch zu schwach. Doch die Familie und alle Umstehenden waren sich sicher: Michal wird es schaffen.
Heute, zwei Jahre nach ihrer unglaublichen Reise und ihrer beeindruckenden Rehabilitation, blickt Michal optimistischer denn je in die Zukunft. Von einem Mädchen, dessen motorische Fähigkeiten auf das Schwerste beeinträchtigt waren, wurde eine kleine Künstlerin, die mit wunderschönen Malereien ihre Gefühle zum Ausdruck bringt. Die heute 12-Jährige träumt von einem gesunden und erfüllten Leben. Sie versucht jeden einzelnen Moment zu genießen und ist unglaublich dankbar für ihr neues Leben. Sie vsieht nichts als selbstverständlich an und lehrt ihr Umfeld, wie wichtig Familie, Glaube und Optimismus im Leben sind.
Der persönliche Freiheits- und Überlebenskampf von Michal berührte die Herzen eines ganzen Landes. Auch für uns ist sie eine (kleine) Heldin. Statt Umhang trägt sie ihr bezauberndes, optimistisches Lächeln.
Titelbild: Michal Lavie ein paar Wochen nach der geglückten Herztransplantation. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Tamar Lavie