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Interview: Gerät der Holocaust in Vergessenheit?

von Deborah Karrer

JERUSALEM, 01.03.19 – In den letzten Jahren warnen immer mehr Stimmen in Deutschland und der gesamteuropäischen Öffentlichkeit, dass der Holocaust zunehmend in Vergessenheit gerät. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung wollen 81% der Deutschen den NS-Völkermord an den Juden bewusst „hinter sich lassen“. Insgesamt 58% forderten, einen kompletten „Schlussstrich“ ziehen zu wollen. Doch dabei handelt es sich nicht allein um einen deutschen Trend. In einer Umfrage des Senders CNN, stellte sich heraus, dass einer von zwanzig befragten Europäern nichts oder nur wenig über den Holocaust wusste. Yad Vashem, das international bekannteste Holocaust Museum der Welt, versucht diesem Trend bewusst entgegen zu wirken. Wie diese Arbeit praktisch aussehen kann, erklärte uns Dr. Susanna Kokkonen, jahrelang Vorsitzende der „Christlichen Freunde Yad Vashems“. Die Organisation widmet sich der Holocaust-Erziehung weltweit. 

FJ: Frau Kokkonen, Sie haben viele Jahre in Yad Vashem gearbeitet. Wie sah diese Arbeit tagtäglich aus?

Kokkonen: Die Arbeit bei Yad Vashem war neu und bahnbrechend, daher war ich immer sehr beschäftigt. Es gab so viel zu tun. Erstmal mussten wir bekannt machen, dass Yad Vashem eine neue Abteilung speziell für die Bildung von Christen eröffnet hatte. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns auf spezielle Besuchsprogramme vorzubereiten, wenn wir Reisegruppen oder VIP-Besuche in Yad Vashem empfingen. Unser Team bestand aus drei Personen und einigen Freiwilligen.

FJ: Nachdem Sie viele Jahre im Bereich Holocaust-Erziehung gearbeitet haben, nehmen sie ein wachsendes oder abnehmendes Interesse am Holocaust wahr?

Kokkonen: Es besteht die Gefahr, dass der Holocaust mit zunehmender Zeit als längst vergangene Geschichte betrachtet wird, die für die heutige Zeit nicht mehr relevant ist. Aus verschiedenen Studien wissen wir, dass sich die Zeitwahrnehmung der Menschen heute verändert hat. Andererseits waren unsere Seminare immer voll belegt und sobald sich eine Person mit diesem Thema beschäftigt, wird sie normalerweise ein lebenslanges Interesse daran haben. Wir müssen nur daran arbeiten mehr Menschen zu erreichen, unter Anderem durch den Einsatz moderner Medien.

FJ: Wie schlagen Sie vor, das Thema des Holocaust nach dem Tod der meisten Überlebenden weiter lebendig zu halten?

Kokkonen: Der Holocaust ist in vielerlei Hinsicht ein einzigartiger Genozid, aber durch unser Wissen können wir allgemeine Rückschlüsse über Völkermorde ziehen. Ich meine damit, dass es konkrete Schritte gibt, die zu einem Völkermord führen können. Durch den schleichenden Prozess, der zum Holocaust führte, können diese Schritte sehr genau identifiziert werden. Der Holocaust ist der best dokumentierteste aller Völkermorde und auch heute finden wir immer noch mehr Material, das uns zu neuen Erkenntnissen führt. Es gibt immer noch Völkermorde und Verfolgung. Der Holocaust bietet also definitiv viel Lehrmaterial und ist daher äußerst relevant.

FJ: Wie ist es für Sie eine „christliche Botschafterin“ für eine durch und durch jüdische Institution zu sein?

Kokkonen: Besonders im Hinblick auf den historisch-christlichen Antisemitismus, wurde ich von den Medien tatsächlich oft als„christliche Botschafterin“ bezeichnet, auch wenn dies nicht der offizielle Titel meiner Arbeit war. Ich denke, es zeigt Mut, Weisheit und Verständnis, dass Yad Vashem einem Christen eine so wichtige Rolle zugestand. Ich weiß, dass viele unserer Besucher und Seminarteilnehmer sich sehr verändert haben und dass es von großer Wichtigkeit war, dass ich als Christin dort war. Es war ein großes Privileg diese Rolle zu besetzen.

FJ: Wie sehen Sie die christliche Sicht auf den Holocaust heute, nachdem Sie mit vielen Christen verschiedener Konfessionen gesprochen haben?

Kokkonen: Ich glaube, dass viele Christen auch heute noch, nur wenig über die Verbindung zwischen dem Christentum und dem Holocaust wissen. Weltweit haben die Menschen von jemandem wie Oskar Schindler oder Corrie Ten Boom gehört, aber sie sind ungebildet über das Gesamtgeschehen. Ich denke auf emotionaler Ebene ist es schwierig und herausfordernd zuzugeben, dass christliche Lehre oftmals den Weg für Hass und für Mord bereiteten. Leider herrscht in vielen christlichen Kreisen immer noch eine Art von Antisemitismus. Wie können Sie sonst erklären, dass in verschiedenen Kirchen kürzlich Israel-Boykotte initiiert wurden? Natürlich bekennt sich niemand offen zum Antisemitismus und man kann den Trend mit verschiedenen politisch korrekten Begriffen schön reden, aber wenn Sie ein bisschen nachhaken, finden Sie leicht die Wahrheit heraus.

FJ: Sie haben bei einigen Reden gesagt, dass es einen Zusammenhang zwischen der historischen Isolation des jüdischen Volkes und der gegenwärtigen Isolation des Staates Israel gebe. Wie erklären Sie das?

Kokkonen: Das jüdische Volk war durch den Antisemitismus immer isoliert, obwohl es in Westeuropa einen bedeutsamen Beitrag zu den umliegenden Gesellschaften geleistet hat. Gegen das jüdische Volk existierten seit jeher Vorurteile und die schrecklichsten Anschuldigungen wurden gegen sie erhoben. Dazu gehörten Anschuldigungen wie etwa “Blutverrat” oder “Ritualmord”, nach welchen die Juden des Mordes an Christen – insbesondere Kindern – bezichtigt wurden. Diese Verleumdung ist ein konkretes Beispiel für eine hasserfüllte Ideologie, die abgewandelt auch heute gegen den jüdischen Staat verwendet wird. Ich sage also, dass die gleichen Anschuldigungen, die zur Isolierung und dem Hass gegen die Juden verwendet wurden,  sich heute gegen den jüdischen Staat richten. Israel hat große Anstrengungen unternommen, um an internationalen Foren teilzunehmen, aber es wurde von diesen Foren so oft verurteilt, wohingegen andere Staaten, die gegen ihr eigenes Volk Verbrechen begehen nicht verurteilt werden. Es herrscht also eine Doppelmoral gegen Israel, und ich glaube, dass es sich in beiden Fällen tatsächlich um Antisemitismus handelt.

Foto: Halle zum Gedenken  der Namen der Holocaust Opfer in Yad Vashem. Quelle: David Shankbone/wikimedia

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