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Helden ohne Umhang (18): Ruthi Gillis und Ossie Sasson – das „warme Plätzchen“ in Gush Etzion

von Nadine Haim Gani 

JERUSALEM, 08.10.2021 – Nachdem sie das Wertvollste verloren haben, errichteten die beiden „Tanten“, wie sie von den Soldaten liebevoll genannt werden, ihre „Pinah Ha’Hama“. Millionen von Kuchen, Kaffees und heißen Suppen kochen sie hingebungsvoll und verteilen sie an ihre Soldaten. Mit der „Pinah Ha’Hama“ (zu Deutsch: „warmes Plätzchen“) erwärmen sie seit über zwei Jahrzehnten die Kämpferherzen. Doch das liebevolle Imbissimperium, das inzwischen Hunderte von Freiwilligen beschäftigt, wuchs aus der Trauer und dem Verlust ihrer Liebsten.

Hunderttausende Soldaten passierten in den vergangenen 20 Jahren die berüchtigte Kreuzung in Gush Etzion. Kämpfer der Armee, Polizeieinheiten und Grenzpolizisten haben dort das „warme Plätzchen“ besucht. Sie stärken sich mit einem Stückchen selbst gebackenem Kuchen, einer kräftigen Tasse Kaffee oder schlürfen genüsslich an einer heißen Schüssel Suppe, wenn der Winter in Israel Einzug hält. Selbst viele Jahre nach der Entlassung aus ihrem Armeedienst besuchen die ehemaligen Soldaten ihre warmherzigen „Tanten“. 

Hinter der Idee stehen zwei Frauen. Ruth Gillis (58) und Ossie Sasson (52) beschlossen aus ihrem persönlichen Schicksal ein liebevolles Gedenkprojekt zu errichten und so ihre getöteten Liebsten zu verewigen. Die Geschichte der beiden Witwen beginnt im Jahr 2001.

Zweite Intifada bricht über Israel herein

Nach wiederholt gescheiterten Verhandlungen unter der Vermittlung der USA in Camp David im Juli 2000 und dem Besuch des Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg brach am 29. September 2000 über Israel eine blutige Terrorwelle herein. Proteste mutierten schnell zu Terrorakten und Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten. Die Zahlen sind erschreckend: In den vier Jahren der zweiten Intifada wurden bei über 20.000 Terroranschlägen 1030 Israelis ermordet. Israel verzeichnete bis zum September 2004 unter anderem 144 Selbstmordanschläge und 13.730 Schussattacken.

Die zweite Intifada und der blutige arabische Terror erreichten im Jahr 2001 in Israel ihren Höhepunkt. Dr. Shmuel Gillis, Vater von fünf Kindern im Alter von drei bis 13 Jahren, war zu diesem Zeitpunkt leitender Hämatologe im Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem. Er war für den Bereich der Blutgerinnung verantwortlich und beschäftigte sich gleichzeitig mit innovativen Studien. Er diente in der israelischen Armee als Arzt- und Reservearzt in der „Eisvogel-Einheit“, einer Elitetruppe der israelischen Luftwaffe. Shmuel Gillis wurde in England in einer religiöse Familie geboren, die 1970 nach Israel auswanderte. Er und seine beiden Brüder wurden Ärzte und traten so in die Fußstapfen ihres Vaters Dr. Aharon Gillis. 

Zwei Morde – zwei Schicksale

Am 1. Februar 2001 befand sich Dr. Gillis nach einer Schicht im Krankenhaus auf dem Nachhauseweg zu seiner Familie. Das Paar lebte im Dorf Karmei Tzur in der Umgebung von Gush Etzion. Auf der Autobahn 60, der Verbindungsstraße von Jerusalem nach Hebron, nahe dem palästinensischen „Flüchtlingslager“ Aroub, schossen Terroristen aus einem vorbeifahrenden Auto mit automatischen Handfeuerwaffen auf Gillis. Elf Kugeln trafen seinen Körper, bohrten sich in seinen Hals und seine Brust. Er verstarb noch am Tatort.

Seine Ehefrau Ruthi, die nun ihre fünf Kinder alleine großziehen musste, erzählte ihren Kleinen immer wieder, dass Hunderte von Shmuels Patienten ihr das Beileid aussprachen. Für sie war er ein Symbol der Hoffnung. Gillis machte bei der Behandlung seiner Patienten keinen Unterschied zwischen politischer Einstellung, Religion oder Herkunft. Er kümmerte sich um Patienten, die an Leukämie und Lymphomen litten und nicht nur aus Israel, sondern auch aus Gaza, Ramallah, Nablus und sogar aus Jordanien und Ägypten zu ihm kamen. Eine seiner Patientinnen, eine israelische Araberin, beschrieb ihn als „ein Mensch, der sogar besser als ein Engel gewesen ist.“ Tausende, darunter Familie und Freunde, seine Kollegen und Patienten, erwiesen Gillis bei seiner Beerdigung die letzte Ehre. Er wurde auf dem Friedhof Gush Etzion beigesetzt.

Nur zehn Tage nach der grausamen Bluttat, die ganz Israel schockierte, wurde Gush Etzion von einem weiteren Mord erschüttert. Am 11. Februar 2001 befand sich Zachi Sasson, der als Wartungsleiter im technologischen Park in Jerusalem arbeitete, auf dem Heimweg. Der 35-Jährige lebte mit seiner Frau Ossie und seinen beiden kleinen Kindern im Kibbuz Rosh Zurim in Gush Etzion. Er fuhr auf der sogenannten Tunnelstraße, die Jerusalem mit Gush Etzion verbindet, als palästinensische Terroristen von einer Brücke aus das Feuer auf sein Auto eröffneten. Eine der M-16-Kugeln traf den jungen Mann am Kopf. Sein Auto raste in die Leitplanken und kam nach mehreren Hundert Metern zum Stehen. Boaz Allison, einer der Sanitäter, die zur Rettung des Verletzten gerufen wurden, erzählte später, wie schwierig sich die Bergung des lebensgefährlich verletzten Fahrers herausstellte. Mit Helmen und kugelsicheren Westen kämpften die beiden Sanitäter unter ständigen Beschuss der Terroristen um das Leben Zachis. Erst mit Hilfe der Armee konnte das medizinische Team von Magen David Adom Zachi Sasson schließlich in Sicherheit bringen. Doch der junge Familienvater erlag wenig später im Hadassah-Krankenhaus seinen schweren Kopfverletzungen. 

Ruthi Gillis, die Witwe von Dr. Shmuel Gillis, besuchte Zachis Witwe Ossie. Die beiden Frauen schenkten einander das Verständnis, die Liebe und Unterstützung, die sie in dieser schwierigen Zeit brauchten. Aus dem Verlust ihrer geliebten Ehemänner und dem tiefen Loch, das ihr Tod bei den beiden Frauen hinterließ, suchten Ruthi und Ossie einen Weg, das Gedenken an ihre ermordeten Männer aufrecht zu erhalten. Ruthi erzählt, dass ihr Ehemann als Armeearzt diente und zu vielen Militäroperationen eingezogen wurde. Mit den Jahren fühlte sich Shmuel für die jungen Soldaten verantwortlich und betitelte sie liebevoll als „seine Kinder“. Während der sieben Trauertage von Zachi Sasson wurde das Gedächtnisprojekt „warmes Plätzchen“ geboren.

Das „warme Plätzchen“

Das „warme Plätzchen“ befindet sich in einem Gebäude an der Hauptkreuzung von Gush Etzion. Soldaten bekommen dort Getränke, hausgemachtes Gebäck und andere kostenlose Leckereien serviert. Die Kämpfer haben die Möglichkeit, einige Zeit zu verweilen und Kräfte zu sammeln. Sie essen und trinken eine Kleinigkeit und setzen dann ihren Dienst fort. Neben den kostenfreien Erfrischungen erhalten die Wehrpflichtigen ein Lächeln, liebende Worte und einen Segensspruch. 

Sharon Assman, der als Kommandeur in der Binyamin-Brigade dient, unterhält sich mit Ruthi Gillis, deren Ehemann Shmuel bei einem Terroranschlag getötet wurde. Sie gründete mit Ossie Sasson das „Warme Plätzchen“ in Gedenken an ihre getöteten Männer. Foto: Gershon Elinson / Flash90

Das „warme Plätzchen“ ist täglich außer am Schabbat von 7:00 Uhr bis 21:00 Uhr geöffnet. Betrieben wird das Gedenkprojekt von Ruthi, Ossie und vielen Freiwilligen aus Efrat und Gush Etzion. Die Versorgung und Lebensmittel werden durch Spenden finanziert. Um die Instandhaltung kümmern sich die Gemeinderäte von Gush Etzion und Efrat. Sie finanzieren anfallende Reparaturen und Restaurierungen.

Zwischen 200 und 300 Soldaten aus den verschiedensten Kampfeinheiten und Armeegraden halten jeden Tag an der Gedenk-Station. Im heißen israelischen Sommer, wenn die Temperaturen auf über 40 Grad klettern können, werden den Militärpflichtigen eisgekühlte und erfrischende Getränke mit verschiedenen Snacks gereicht. Im kalten Winter werden die Kämpferherzen mit heißen Suppen gewärmt. Manchmal erfreuen die „Tanten“ ihre Besucher auch mit einer Tüte Popcorn, die vor Ort frisch zubereitet wurde. Die Soldaten lieben und genießen ihre kurze Auszeit. Sie hinterlassen gerne einen ihrer Armee-Anstecker oder das Abzeichen der Einheit, in der sie dienen.

„Wir betrachten die Soldaten als unsere Söhne. Wir schenken ihnen eine Pause und schmackhafte Leckereien. Dann gehen sie gestärkt zu ihren Jeeps zurück und verteidigen die Grenzen Israels. Die meisten Soldaten kommen nicht aus der Gegend, und der Besuch bei uns gibt ihnen zum ersten Mal die Gelegenheit, die Bewohner der Umgebung kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen“, erklärt Michal, eine der Freiwilligen. 

Im Jahr 2014 entführten radikale Hamas-Anhänger drei Teenager an der Kreuzung von Alon Shwut, nicht weit vom „warmen Plätzchen“ entfernt. Eine große Militäroperation auf der Suche nach den drei Jungen begann in der Umgebung. Ruthi Gillis erzählt: „Während der Operation ‚Bring back our Boys‘ verpackten wir täglich Dutzende von Paketen für die Soldaten. Wir erhielten Lebensmittel-Geschenke aus allen Teilen des Landes. Wir haben am Ende die Pakete nicht nur an die Soldaten in Gush Etzion und Hebron verteilt, sondern auch an Soldaten in der Umgebung von Benjamin und Judäa und Samaria. Wir haben das Volk Israels von seiner schönsten Seite gesehen und den großen Drang, seinen Soldaten beizustehen.“

Ruthi Gillis wird selbst zum Ziel

15 Jahre nach dem Mord an ihrem Ehemann wurde Ruthi Gilis im Oktober 2016 selbst Ziel einer Schussattacke. Auf der gleichen Strecke, auf der ihr geliebter Gatte getötet wurde, in der Nähe ihres Dorfes, wurde das Auto von Ruthi von einem palästinensischen Wagen aus unter Beschuss genommen. Wie durch ein Wunder verfehlten die Kugeln ihr Ziel und Ruthi überlebte den Terrorangriff unverletzt. Nicht einmal ein Kratzer war an ihrem Wagen zu finden. Ruthi erzählt wenig später: „Ich hatte gerade den Ausgang von Karmei Tzur passiert und befand mich auf dem Weg zur Autobahn, als ich einen maskierten Mann vor mir sah, der mit einer Waffe auf mich schoss. Ich habe den Terroristen klar erkennen können. Ich fuhr sofort in Richtung der Gush Etzion Kreuzung, wo ich die anwesenden Sicherheitskräfte alarmierte.“ Die israelische Armee begann sofort mit der Suche der Attentäter. „Ich fühle mich sehr schlecht, es ist ein grausames Gefühl. Das ist ein sehr ernstes Ereignis. Aber ich danke dem Allmächtigen von Herzen. Hier ist ein Wunder geschehen“, fügt Gillis an. Doch auch dieser Vorfall hält Ruthi nicht davon ab, weiter tüchtig in ihrem Gastzimmer zu kochen und zu backen.

Das „Warme Plätzchen“ weitet seine Dienste aus

Im Laufe der Jahre hat sich das „warme Plätzchen“ weiterentwickelt. Das Gebäude wurde aufgefrischt und mit Holz verkleidet, ein Innenhof wurde gebaut und Lagerhäuser wurden errichtet. Das Projekt wächst stetig, intensiviert und entwickelt sich weiter. Es ist in Planung, den Innenhof weiter zu vergrößern und eine geräumige Gemeinschaftsküche hinzuzufügen, um noch mehr Leckereien für die Soldaten kochen zu können. Des Weiteren wurde eine Bücherecke zum Gedenken an den getöteten Soldaten Yuval Heyman errichtet. Der 21-Jährige kämpfte gegen eine 12-Köpfige Gruppe Terroristen, die während der Militäroffensive „Protective Edge“ über einen Terrortunnel auf israelischen Boden eingedrungen waren.

Israelische Sicherheitskräfte am Tatort eines versuchten Messerangriffs an der Gush Etzion Kreuzung am 13. September 2021. Immer wieder wird die Kreuzung zum Ziel terroristischer Attacken. Foto: Gershon Elinson / Flash90


Das ganze Jahr über organisieren die Freiwilligen und Bewohner der Umgebung von Gush Etzion Aktivitäten für die Soldaten. Es gibt feierliches Kerzenleuchten zum Hannukafest, traditionelle Grillfeiern zum Unabhängigkeitstag des Staates Israel und sogar einen Gesangsabend am Jerusalem-Tag. Mitmachen können alle Soldaten des Sektors und Kämpfer, die den Raum um Gush Etzion einfach nur passieren. Im „warmen Plätzchen“ schenkt man den Wehrleistenden herzliche Dankbarkeit und liebevolle Gastfreundschaft.

„Ich leiste meinen Reservedienst mitten im kalten Winter von Gush Etzion. Es war eine wunderbare Überraschung, eine Tasse heiße Suppe zu bekommen, während ich darauf warte, dass mich der kugelsichere Armeewagen abholt und nach Hebron fährt“, erzählt Offizier Lior, 42, aus Haifa.

Auch der ehemalige israelische Präsident Reuven Rivlin besuchte das „warme Plätzchen“ in Gush Etzion und überraschte mit einem selbst gebackenen Kuchen.
Foto: Gershon Elinson / Flash 90

Der aufopfernde Einsatz der beiden Witwen erinnert uns an den Bibelvers „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben“ (Mt. 25,35). Ruthi und Ossie sind unsere Heldinnen, statt Umhang tragen sie Kochschürzen. 

Titelbild: Ein Kommandeur der Etzion-Brigade, Oberst Roman Goffman, trifft sich mit Ruthi Gillis (rechts) und Ossie Sasson (links), die an der Raststätte für israelische Soldaten arbeiten, um sich zu bedanken und ihnen ein frohes neues Jahr zu wünschen. Foto: Gershon Elinson / Flash90

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