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Vom Kampf gegen Terroristen zum Gefecht gegen das System

PETAH TIKVA/TEL AVIV, 19.04.2021 (NH) – Kurz vor Beginn des Soldatengedenktages hat sich der ehemalige israelische Soldat Itzik Saidijan vor dem Sozialamt selbst in Brand gesteckt. Der 26-jährige Armee-Invalide kämpft seit Jahren gegen die bürokratischen Windräder des Systems an, um sein schweres Posttrauma nach Beteiligung in Israels Kriegen staatlich anerkennen zu lassen. Diesen erniedrigenden Streit gab er nun auf und zündete sich als letztes Zeichen in diesem Kampf vor dem Büros der Rehabilitationsabteilung in Petah Tikva selbst an. Bei Saidijan handelt es sich bei weitem nicht um den Einzigen, dem die Bürokratie zu schaffen macht. In Israel leben weitere 5200 posttraumatisch belastete Soldaten, die vom System nicht oder nur teils anerkannt werden. Das Problem ist seit dem Bericht des israelischen Staatskontrolleurs im Jahr 2006 bekannt. Ein weiteres Mal wurde im Jahr 2009 und 2018 auf die unzureichende Behandlung der traumatisierten Soldaten hingewiesen. Entsprechende Reformen, um den körperlich und geistig verletzten Veteranen das Leben zu erleichtern, wurden jedoch nicht verabschiedet.

Itzik Saidijan kämpfte im letzten Gazakrieg 2014 in der Schlacht von Shuja’iyya als Teil der Golani-Brigarde. Seine Truppe war mit einem Transportpanzer unterwegs und geriet in einen Hinterhalt. Als das Gefährt von Raketen beschossen wurde, starben sieben Soldaten und zwei weitere wurden schwer verletzt. Der Körper des toten Soldaten Oron Shaul wurde dabei von Hamas Terroristen entführt. Bis heute wartet dessen Familie auf die Rückgabe der sterblichen Überreste ihres Sohnes. Saidijan wurde mit Verbrennungen am ganzen Körper ins Krankenhaus Tel HaShomer gebracht und überlebte. Doch nun begann für den Soldaten ein weiteres Gefecht: die Anerkennung der unsichtbaren Wunden. Zwar wurde Saidijan als Armee-Invalide anerkannt, doch ermöglichten ihm die zugesprochenen Sozialhilfen nicht alle benötigten körperlichen und physischen Behandlungen zu erhalten.

Das System erschwert das Leben posttraumatisch belasteter Soldaten

Idan Kaliman, Vorsitzender des Vereins der Armee-Invaliden, erklärte in einem Interview: „Seit Jahren kämpfen wir vor dem israelischen Verteidigungsministerium für die Rechte schwerst traumatisierter Soldaten und die verachtende Behandlung des Staates ihnen gegenüber. Es muss dringend eine Änderung der Verwaltung gegenüber invalidien Kriegsveteranen geben. Itzik hat den höchsten Preis bezahlt!“

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verwies zu Beginn der Kabinettssitzung auf den Vorfall und sagte er sei „entschlossen, eine umfassende Reform zur Behandlung von Soldaten mit Behinderung innerhalb von zwei Wochen zu verabschieden.“. Am späten Nachmittag traf Netanjahu auf Kriegsinvaliden und übergab ihnen das Versprechen persönlich.

Rehabilitationsrechte und soziale Hilfe für verwundete Soldaten

Laut dem Gesetz erhalten die Betroffenen keinerlei Sozialhilfe bei einem anerkannten Behinderungsgrad von bis zu 9 %. Bei einer 10 – und 19 gradigen Behinderung wird eine einmalige Entschädigung von 12.000 bis 50.000 Euro bezahlt. In beiden Fällen werden die Menschen mit Behinderung nicht als Armee-Invaliden anerkannt. Erst ab einem Behinderungsgrad von 20 % und mehr wird die Person vom Verteidigungsministerium als invalid eingestuft. In diesem Fall wird eine monatliche Grundsicherung von 12,50 Euro pro Prozent erstattet und die Rehabilitationsabteilung des Ministeriums übernimmt die psychiatrische, psychologische und medikamentöse Unterstützung des Betroffenen. Das jedoch nur über einen  Zeitraum von drei Jahren. Die monatliche Unterstützung, die Itzik zunächst zugesprochen wurde belief sich auf 286,40 Euro monatlich. Weitere Hilfe aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit musste er wiederholt einklagen. 

Invaliden demonstrieren vor dem Armee-Hauptquartier in in Tel Aviv.
Foto: Miriam Alster/Flash90

Itziks Schreie ertönten gestern noch einmal auf den Straßen Israels

Gestern demonstrierten hunderte Armee Invaliden und zeigten ihre Verbundenheit mit Saidijan. Der Verkehr in und um Tel Aviv war über Stunden lahmgelegt. Mit dem Slogan „Lasst die Verletzten nicht zurück“, machten die Demonstranten auf  ihren Kampf gegen die bürokratischen Mühlen aufmerksam. Shlomo Sachs, ebenfalls verwundeter Veteran, sagte gegenüber dem israelischen Nachrichtensender “Kanal 13”, er wolle seine Prothese anzünden. Kobi Maman erklärte sichtlich erregt, er kämpfe bereits 10 Jahre um die Anerkennung seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Dutzende weitere Soldaten berichten ebenfalls von ihrem aussichtslosen Gefecht gegen die israelischen Behörden.

Auch Ido Gal Razon, ehemaliger Soldat der Golani-Kampfeinheit, welcher in der Gazaoperation „Zalul ce Jain“ (zu deutsch: Klar wie Wein) im Jahr 2007 schwerst verletzt wurde, zeigte seine Solidarität bei den gestrigen Demonstrationen. Razon, welcher seinen Namen nach den traumatischen Erlebnissen im Gazastreifen ändern lies, wurde zum Symbol dieses Kampfes. Seinen Schmerz schrie er vor Parlamentsmitgliedern der Knesset bereits im Jahr 2015 hinaus: „Warum wollt ihr mir nicht helfen? Ich habe für Euch getötet! Ich habe Leben genommen! Neun Jahre kämpfe ich nun schon um die Anerkennung meiner posttraumatischen Störung! Kein einziges Prozent an Behinderung wurde mir zugesprochen! Meine Mutter zahlte den Krankenhausaufenthalt! Ich schreie nach Hilfe und niemand hilft mir! Ich nässe nachts im Bett, weil “er“ vor mir steht und mich fragt „warum hast du mich umgebracht?“. Wie kann es sein, dass ein Terrorist staatlich unterstützt wird und ich nicht? Wie kann es sein, dass ein Terrorist psychologische Hilfe bekommt und ich nicht?“

Itzik wurde gestern einer Hauttransplantation unterzogen, befindet sich jedoch weiterhin in lebensgefährlichem  Zustand. Seine Familie bat im öffentlichen Fernsehen um Gebet.

Bild: Israelische Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen.

Foto: Yossi Zamir/Flash90

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