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Mehr als 2.000 neue Invaliden seit Kriegsbeginn – “So etwas haben wir noch nie erlebt”

JERUSALEM, 10.12.2023 (NH) – Es ist ein neues und sehr trauriges Ritual, das im Schatten der anhaltenden Gazaoffensive in Israel Einzug genommen hat: Jeden Morgen um Punkt sechs Uhr gibt der israelische Armeesprecher die Anzahl und Namen der getöteten Soldaten vom Vortag bekannt. Ein Detail, das jedoch nicht veröffentlicht wird, ist die tägliche Anzahl verletzter Streitkräfte. Die Offensive, die an Simchat Tora begann, führt zu vielen Verwundeten unterschiedlicher Intensität. Verletzte Sicherheitskräfte, Reservisten und Soldaten müssen einen Antrag beim Verteidigungsministerium einreichen, um als behinderte Invaliden anerkannt zu werden. Israel begleitete bis vor dem Gazakrieg “Eiserne Schwerter” etwa 60.000 behinderte Soldaten in der Rehabilitationsabteilung des Verteidigungsministeriums und der “Disabled IDF Association” (zu Deutsch IDF-Behindertenvereinigung). Der jüngste Krieg in der Enklave hat die Struktur beider Einrichtungen erheblich verändert. Offizielle und Mitarbeiter berichten, dass “alles, was sie gelernt haben, sich auf diesen Krieg konzentriert – nur noch extremer.”

Körperlichen Verletzungen folgen psychische

Die staatliche Rehabilitationsabteilung und die Disabled IDF Association arbeiten seit Kriegsausbruch eng zusammen. Limor Luria, Leiterin der Rehabilitationsabteilung, berichtet: “So etwas habe ich noch nie erlebt”. “Mehr als 58 Prozent der Verwundeten haben schwere Verletzungen an Armen und Beinen, einschließlich Amputationen. Etwa 12 Prozent haben innere Verletzungen – Milz, Niere, sowie Risse der inneren Organe. Es gibt auch schwere Kopf- und Augenverletzungen”, berichtet die Leiterin. Luria weist auch auf etwa 7 Prozent psychisch kranke Soldaten hin – eine Zahl, die in den kommenden Monaten rasant anzusteigen droht. “Eine Person, die körperlich verletzt wurde, ist auch psychisch verwundet. Psychische Verletzungen werden jedoch immer erst Monate später oder erst lange Zeit nach dem Krieg entdeckt”, erklärt Luria.

Die Zahlen seit dem 7. Oktober sind astronomisch: Mehr als 2.000 Soldaten, Polizisten und andere Angehörige der Sicherheitskräfte wurden bereits offiziell als IDF-Invaliden anerkannt. Der Vorsitzende der IDF-Behindertenvereinigung, Idan Kaliman, der 1992 in Khan Yunis selbst schwer verletzt wurde und an den Rollstuhl gefesselt ist, erklärt die erschreckenden Daten. Demnach zogen bis dato mehr als 100.000 israelische Streitkräfte in den Gazastreifen, um die Heimat zu verteidigen und Verletzte bzw. Leichen zu bergen. “Unsere Soldaten waren schrecklichen Szenen ausgesetzt. Selbst wenn nur 10 Prozent an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, werden wir bald riesige Zahlen erreichen”, so Kaliman. “Ich saß mit einem unserer Kämpfer zusammen, der von drei Kugeln getroffen worden war. Eine körperlich zerrissene Person – eine sehr schwere Verletzung. Doch er erzählte schnell, die Verletzung sei zwar schwierig, doch schlimmer sei das, was er gesehen hat”.

System muss sich auf Überlastung vorbereiten

Kaliman berichtet weiter, dass jeder seelisch und körperlich behinderte Mensch seine alltägliche Routine hatte. “Arbeit, Freunde und Familie. Und jeder dieser Bereiche ist jetzt geschädigt und bedarf einer maßgeschneiderten Begleitung”, so Kaliman. Der Kriegsveteran fordert schon jetzt die Regierungs-Ausschüsse dazu auf, sich auf eine riesige Welle neuer Invaliden vorzubereiten und vor allem vereinfachte und schnelle bürokratische Lösungen bereitzuhalten.

Neben den IDF-Invaliden müssen auch Ersthelfern wie ZAKA-Mitarbeitern und Feuerwehrleuten, die vor Ort tätig waren, innovative Behandlungen im Bereich der Posttraumata zuteilwerden. Die Freiwilligen fallen nicht unter die Verantwortung des Verteidigungsministeriums. Das bedeutet, dass entsprechende Gesetzeslücken dringende Veränderungen erfordern. Des Weiteren muss in allen Bereichen dringend die Anzahl von Pflegekräften und Psychologen erhöht werden. “Dies gilt insbesondere für den Bereich des Traumas, wo jeder Tag, der vergeht, ein Verlust ist, der die Genesung erschwert”, erklärt Kaliman. Das Verteidigungsministerium veröffentlicht in einer jüngsten Stellungnahme, es werde zwar eine Herausforderung für das Amt, “doch sollen die Verletzten darauf vertrauen, dass ihnen die richtige Versorgung zukommen wird”. “Die Stimmen der Menschen müssen jetzt gehört werden, damit sie die Hilfe bekommen, die ihnen trotz des enormen Opfers, das sie gebracht haben, ein erfülltes Leben ermöglicht”.

Titelbild: Sanitäter evakuieren am 7. Oktober 2023 einen verwundeten israelischen Soldaten in der Nähe der südisraelischen Stadt Sderot. Foto: Nati Shohat/Flash90

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