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Helden ohne Umhang (15): Shira Isakov und Adi Gozy – Zwei Frauen, die das Schicksal zusammenführte

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 03.09.2021 – Die jährlichen Feierlichkeiten zum israelischen Unabhängigkeitstag werden mit einer traditionellen Fackel-Zeremonie auf dem Herzlberg in Jerusalem eröffnet. Dabei erhalten herausragende Persönlichkeiten die große Ehre, eine von 12 Fackeln zu entzünden. In diesem Jahr stand die Zeremonie im Zeichen der „israelischen Bruderschaft“. Zum 73. Geburtstag des jüdischen Staates wurde eines der Feuer gleich von zwei Personen angezündet. Shira Isakov, die den grausamen Mordversuch ihres Mannes überlebt hat, und Adi Gozy, ihre Nachbarin, die ihr an diesem Tag das Leben rettete. Shira und Adi wurden zum Symbol israelischer Brüderlichkeit und zu führenden Persönlichkeiten im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Die beiden Frauen entzündeten ihre die Fackel mit den Worten: „Im Gedenken an die Frauen, deren Schreie ungehört blieben.“

Shira hätte das jüdische Rosch Ha’Schana Fest 2020 nicht überleben sollen. Man muss ihre Geschichte hören, um zu verstehen, mit welchem Lebenswillen sie um ihr Leben kämpfte.

Shira bei einer Veranstaltung im israelischen Parlament, der Knesset. Foto: Yonatan Sindel/Flash90

Ein sympathischer netter Nachbar 

Shira wurde in Carmiel geboren. Ihre Eltern sind Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Nach ihrem Armeedienst begann sie eine Betriebswirtschaftslehre. Shira arbeitete in einer Werbeagentur und lebte im Stadtteil Ramat Aviv in Tel Aviv. Ihren zukünftigen Ehemann lernte sie sozusagen vor ihrer Haustür kennen. Aviad Mosche war 13 Jahre älter als Shira, er wohnte im Apartment unter ihr. Die beiden joggten gerne gemeinsam. Langsam entwickelte sich eine Partnerschaft. Shiras Eltern waren zunächst gegen die Beziehung. Der Altersunterschied und die Tatsache, dass Aviad geschieden war, störten vor allem ihre Mutter Osnat. Doch der gut gekleidete Mann und sein charmantes Auftreten eroberten am Ende Shiras Herz. Das Paar heiratete gegen den Rat aller Familienmitglieder und Freunde nur fünf Monate später. Einen Monat nach der Hochzeit wurde Shira schwanger. Das Paar freute sich über die Geburt eines gesunden Jungen. Doch danach änderte sich Aviads Verhalten. Er entwickelte eine Obsession seiner Ehefrau gegenüber. So störte ihn, wenn Shira ihr Baby stillte, sie einen kurzen Rock oder enge Hosen trug. Mehr und mehr versuchte Aviad über ihr Leben zu bestimmen. Während eines Streits lernte Shira zum ersten Mal die gewalttätige Seite ihres Mannes kennen. Aviad, der sich seit Jahren dem Boxsport widmete, schubste sie und trat auf seine Frau ein. Shira rief die Polizei und Aviad musste zum Verhör auf die Polizeiwache. Eine einstweilige Verfügung verbot ihm, die gemeinsame Wohnung in den nächsten drei Tagen aufzusuchen. Shira packte ihren kleinen Sohn und fuhr nach Carmiel zu ihren Eltern. Ihr Umfeld drängte die junge Mutter, sich von ihrem Ehemann zu trennen, doch nachdem Aviad ihr Elternhaus aufsuchte und sich für sein Fehlverhalten entschuldigte, stellten die beiden den „Haussegen“ wieder her und kehrten in die gemeinsame Wohnung zurück. Shira erkannte die drohende Gefahr nicht.

Das Paar versucht einen Neustart

Das Paar versuchte die Ehe zu retten. Aviad erhielt ein vielversprechendes Arbeitsangebot auf einem Armeestützpunkt in Mitzpe Ramon. Die öde Wüstenstadt entpuppte sich als das Gegenteil der pulsierenden Küstenstadt Tel Aviv, die Stadt, die Shira so sehr liebte. Sie konnte keine Sympathie für die braune Einöde der Wüste aufbringen, doch aus Liebe zu ihrem Ehemann stellte sich Shira der Herausforderung. 

Mitzpe Ramon: Der Umzug in die öde Wüstenstadt sollte Shira das Leben kosten. Aviad isolierte seine Familie von der Außenwelt. Nicht einmal Shiras Eltern wussten die neue Adresse ihrer Tochter. Foto: Lior Mizrahi/Flash90

Sie zogen in ein Neubaugebiet. Acht zweistöckige Appartements umrunden einen kleinen grünen Park mit Spielplatz. Die Wohnungen sind so konstruiert, dass die Mütter die Möglichkeit haben, von den Küchen aus ihre Kinder beim Spielen zu beobachten.

Ihre neue Nachbarin Adi fand schon zu Beginn, dass die Neuankömmlinge nicht in die Umgebung passten. Hier und da trafen sich die Frauen auf dem Spielplatz, wenn Shira mit ihrem Kleinen im Grünen spielte. Adi bemerkte, dass Aviad stets darauf achtete, dass der Rollladen in der Küche geöffnet war, um so die Möglichkeit zu haben, seine Frau auf dem Spielplatz zu sehen. Kehrte Shira zurück in die Wohnung, wurden die Rollläden wieder geschlossen. Das Paar aus Tel Aviv sonderte sich vollständig von den anderen Familien ab.

Ein Geschwisterchen für den Zweijährigen 

Shira fühlte sich einsam. Ohne Familie und Freunde, ohne Arbeitsplatz war ihr Ehemann ihre einzige Bezugsperson. Die Isolation setzte der jungen Frau sehr zu. Doch als sich das Coronavirus im März 2020 verbreitete, zwei Monate nach ihrem Umzug, fühlte sich Shira zum ersten Mal erleichtert, in Mitzpe Ramon zu leben und nicht im dicht besiedelten Tel Aviv. Von der Coronakrise war in der Wüstenstadt fast nichts zu spüren. Das Verhältnis von Shira und Aviad schien aufzublühen und das Paar entschied sich für ein weiteres Kind. Zwei Monate später war Shira wieder schwanger. 

Eines Abends entwickelte sich zwischen den Eheleuten ein schlimmer Streit. Der Grund: Aviads Familie. Shira bat Aviad, die Probleme bei seinen Eltern am Schabbat-Abend nicht mit in die eigenen vier Wände zu bringen, doch das klappte nicht. Zwischen Wortgefechte und Wut mischten sich Tränen und Frustration. Die Schwangere spürte plötzlich schwere Unterleibsschmerzen. Sie bat Aviad, sie zum Frauenarzt zu begleiten, doch ihr Ehemann sah nicht ein, dass er für einen Arztbesuch die Arbeit verlassen sollte. Erst zwei Tage später, als Shira ein weiteres Mal mit Schmerzen erwachte, wurde sie in die Notaufnahme gebracht. Die Gynäkologin überbrachte Shira die Nachricht, dass bei ihrem Ungeborenen kein Herzschlag mehr zu hören war. Die junge Mutter brach zusammen. Sie war nicht bereit, den Tod ihres ungeborenen Kindes anzunehmen, und fiel in ein tiefes Loch. Von ihrem Mann erhielt sie keine Unterstützung. Im Gegenteil, er verlangte von ihr Zwillinge als „Entschädigung“ für den Verlust. 

Der Wunsch nach einer Trennung

In diesen Tagen wuchs in Shira die Entscheidung, ihren Mann zu verlassen und einen Neuanfang mit einer neuen, gesunden Liebe zu beginnen. Doch leider behielt sie ihre Gedanken nicht für sich, sondern weihte Aviad in ihre Zukunftsplanung ein. Der Gedanke, ihre Familie zu vergrößern, aber nicht mit ihm. Im Nachhinein erkannte Shira, dass dies ein fataler Fehler war. In späteren Sitzungen mit Psychologen wurde ihr deutlich gemacht, dass man einer gewalttätigen und obsessiven Person niemals ins Gesicht sagen darf, dass man das Verhältnis beenden möchte und sich gar einen anderen Partner wünscht.

Dramatisches Neujahrsfest

Es ist Freitagabend, der 18. September 2020. Rosch Ha’Schana, der jüdische Jahreswechsel, beginnt. Israel ist im zweiten Lockdown abgeriegelt. Die jüdischen Familien zelebrieren den Feiertag weitgehend alleine in ihren Häusern. Shiras Plan, die Scheidung ins Rollen zu bringen, muss bis nach den Feiertagen warten. Immer wieder kommt es zu schweren Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann.

Shira wiederholt ihre Anschuldigung, sie habe ihr ungeborenes Kind wegen ihm verloren. Dennoch trifft sie alle Vorbereitungen für den jüdischen Feiertag. Sie kocht ein üppiges Essen und backt ihre Schabbatbrote selbst. Ein Nudelholz liegt auf der Küchenanrichte. 

Inmitten der feierlichen Atmosphäre kommt es immer wieder zu Diskussionen zwischen den Eheleuten. Als Aviad auf Shira zukommt und ihr das verächtliche Statement an den Kopf wirft, er „sei zwar 45 Jahre alt, aber gut aussehend. Im Gegensatz zu ihr, die erst 31 Jahre alt ist, aber hässlicher als seine 70-jährige Mutter.“ Da läuft das Fass über. Um 17.30 Uhr unterrichtet Shira Aviad davon, dass sie zu ihren Eltern fahre und sonntags zurückkomme. Sie ruft ihre Eltern an. Ihre Mutter steht zu diesem Zeitpunkt in der Küche. Shiras Vater geht an den Hörer. Shiras Mutter Osnat erkennt an der Reaktion ihres Mannes, dass etwas nicht stimmt. Sie bittet ihren Mann, die Lautsprecher-Funktion des Telefons zu aktivieren, um hören zu können, was sich am anderen Ende der Leitung abspielt.

Die Eltern hören machtlos mit

Shira erklärt ihren Eltern, dass sie ihre Sachen packe und zu ihnen komme. Aviad ruft immer wieder in Richtung des Telefons, dass sich Shira beruhigen und nicht nach Carmiel fahren solle. Shira ruft nach ihrem Kind und erklärt ihm, dass sie beide nun zu den Großeltern fahren. Aviad wirft sie gewaltsam zu Boden. Shira steht auf und erklärt Aviad, dass sie ihr Vorhaben durchziehen werde und erinnert ihn an sein Versprechen, sie nie wieder gewaltsam anzugehen. Sie wendet sich ihrem Kind zu und zieht dem Kleinen die Jacke an. Am anderen Ende der Leitung hören Shiras Eltern mit. Osnat hört ihre Tochter rufen „Mama, er schlägt mich!“ – doch im gleichen Augenblick spricht Aviad ins Telefon und versichert, Shira würde lügen. Osnat bettelt darum, er möge ihrer Tochter keinen Schaden zufügen. Die verzweifelte Großmutter versucht nachzudenken, wen sie kontaktieren könnte, um die Wohnung des Paares aufzusuchen und nachzusehen, was sich dort abspielt.

Shira will die Wohnung verlassen, doch Aviad stellt sich ihr in den Weg. Er verschließt Tür und Fenster und lässt den Rollladen herunter. Shira versteht nicht, was vor sich geht. Aviad greift das Nudelholz und schlägt zu.

Nachdem das Gericht die Privatsphäre des Angeklagten schützen wollte und ein Veröffentlichungsverbot verhängte, druckten Unbekannte aus Solidarität mit Shira ein Bild von Aviad Moshe und klebten es auf eine Werbetafel an der Ayalon-Autobahn in Tel Aviv. Foto: Avshalom Sassoni/Flash90

Shira soll sterben

In der Wohnung gegenüber trifft Adi Gozy die letzten Vorbereitungen für den Feiertag. Der Tisch ist feierlich gedeckt und das üppige Festmahl fertig. Der Kiddusch-Wein steht bereit. In ein paar Minuten soll sich die Stille des Schabbat-Abends über das Land legen. Ihr Vater, Shlomo Ben Harush, verbringt die Feiertage bei seiner Tochter und seinen Enkelkindern. Die Familie freut sich auf die gemeinsamen Tage. Niemand weiß, welches Grauen sich zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung gegenüber abspielt.

Shira liegt auf dem Boden. Sie ist durch die massiven Schläge ohnmächtig geworden. Sie kommt langsam zu Bewusstsein und hört die erschütternden Schreie ihres Zweijährigen. Sie versucht den Kopf zu heben und erkennt, dass der Kleine neben ihr sitzt. Seine Kleider sind mit Blut vollgesaugt. Die beiden liegen in einer riesigen Blutlache. Shira versucht mit letzten Kräften zu sprechen, doch statt Worte fallen der Mutter die Zähne aus dem Mund. Aviad steht über ihr. Sie bittet ihn inständig, das Kind zu nehmen und ihn ins Nebenzimmer zu bringen. Doch Aviad geht in die Küche und öffnet die Besteckschublade. Er nimmt ein spitzes Küchenmesser heraus. Shira fleht um ihr Leben. Als sie versteht, dass Aviad nicht von seinem Vorhaben abzubringen ist, fängt sie an, mit letzten Kräften um Hilfe zu schreien. Dann verliert sie ein weiteres Mal das Bewusstsein. 

Die Einzigen, die hören, was sich in der Wohnung des Paares abspielt, sind Shiras Eltern. Sie hören den Hilfeschrei Shiras: „Papa, rette mich!“. Osnat hört am anderen Ende der Leitung die grausamen Schreie ihrer Tochter und ihres Enkels. Plötzlich ist es still. Ihre Mutter glaubt, dass Aviad ihre Tochter erstochen hat. Sie verständigen die Polizei, aber die Frage, welche Adresse Shira hat, kann die verzweifelte Mutter nicht beantworten.

Die Nachbarin eilt zu Hilfe

Adi sitzt in ihrem Wohnzimmer und schickt die letzten SMS-Grüße zum Jahreswechsel an ihren Freundeskreis. Plötzlich stürmt ihr sechsjähriger Sohn Peleh ins Zimmer. Der Junge ist aufgebracht und berichtet seiner Mutter, dass im Nachbarhaus ein Baby schreit. Adi versucht ihren Sohn zu beruhigen: „Babys schreien, Mama und Papa werden sich um das Kleine kümmern.“ Peleh gibt sich mit der Erklärung zufrieden und geht nach draußen, um mit seinen Freunden weiterzuspielen. Ein paar Minuten später kehrt er aufgeregt zurück. Er erklärt ein weiteres Mal, ein Baby weinen zu hören, er habe auch Schläge gehört. Adi nimmt die Worte ihres Kindes ernst. Instinktiv läuft die Nachbarin zur Wohnung von Shira und Aviad. Es ist inzwischen 17:50 Uhr. Als Adi vor Shiras Wohnungstür steht, kann sie keine befremdlichen Geräusche vernehmen. Dennoch entscheidet sie sich, ihr Ohr an die Tür zu legen. Erst jetzt kann Adi die Rufe hören: „Hilfe, Hilfe, er bringt mich um!“.

Adi schlägt mit der Faust auf die Wohnungstür ein. Sie schreit nach Aviad und verlangt von ihm, die Türe zu öffnen. Aviad zieht langsam den Rollladen am Küchenfenster hoch. Da er Adi, die noch immer an der Wohnungstür steht, nicht sehen kann, dreht er sich um und läuft zurück zu Shira. Adi hastet zum Fenster: Sie sieht, wie Aviad das Nudelholz nimmt und zweimal auf Shiras Stirn einschlägt. Die entsetzte Nachbarin kehrt zur Tür zurück und schreit um Hilfe. Adi versucht mit aller Kraft, die Tür aufzustoßen. Aviad öffnet und bedroht Adi mit dem Messer. Die Nachbarin erschreckt und lässt von der Wohnungstür ab.

Adis Versprechen

Shira bekommt den Kampf an der Tür mit. Doch als sie erkennt, dass Adi nicht zu ihr kommen kann, verliert sie wieder das Bewusstsein. Immer wieder schlägt Aviad wortlos mit dem Wallholz auf seine wehrlose Frau ein. Er durchlöchert ihre Lungen auf beiden Seiten, ihre Schultern und den Hals. Shiras Augenhöhle, Kiefer und rechter Unterarm sind gebrochen. Aviad versucht, seine Frau zu entstellen. Als er erkennt, dass Shira sich mit allen Kräften ans Leben klammert, fängt er an, sie zu würgen. Aviad flüstert Shira zu: „Stirb endlich!“.

Shlomo Ben Harush hört die Schreie seiner Tochter Adi. Er eilt ihr zu Hilfe. Als er die Wohnung erreicht, blickt der Opa durch das Küchenfenster und sieht Shira blutüberströmt auf dem Küchenboden liegen. Aviad steht mit Küchenmesser bewaffnet über seiner sterbenden Frau. Shlomo ist sich sicher, in diesen Sekunden Zeuge eines Mordes zu werden. Er schlägt mit seinen Fäusten an die Tür und schreit nach Aviad. Als der am Fenster erscheint, sind sein Gesicht und Körper blutverschmiert. Er lächelt Shlomo durch das Fenster an und schließt den Rollladen. Shlomo fleht, Shira am Leben zu lassen und verspricht, Aviad zu helfen. Weitere Nachbarn kommen hinzu. Gemeinsam versuchen sie die Wohnungstür aufzubrechen. Aviad schließt seinen Sohn, der Zeuge des ganzen Grauens war, im Badezimmer ein und öffnet die Haustür. Er ist sich sicher, seine Tat vollendet zu haben. Shlomo steht vor Aviad. Er redet geduldig auf den vermeintlichen Mörder ein. Er versucht, ihn zu beruhigen und verspricht immer wieder, ihm zu helfen. Er versucht, Aviad das Messer aus der Hand zu nehmen. Während der Unterhaltung schlüpft Adi an ihnen vorbei in die Wohnung. Sie sieht Shira in einer riesigen Blutlache liegen und kniet neben ihr nieder. Sie versucht, Shira zu Bewusstsein zu bringen, und redet liebevoll auf die lebensgefährlich verletzte Mutter ein. Shira kann kaum ihre Augen öffnen. Sie denkt, dass es zu spät für ihre Rettung ist. In diesen Sekunden schließt Shira mit ihrem Leben ab. Sie bittet Adi zu versprechen, sich um ihren Sohn zu kümmern. Sie kann kaum noch atmen, die Verletzungen ihrer Lungen sind zu schwer. 

Ist sie tot?“

Die gesamte Zeit über befasst sich Shlomo mit Aviad. Er schafft es, ihn zu überreden, das Messer abzulegen. Auf die Frage, wo sich das Kind befindet, führt Aviad ihn ins Badezimmer. Shlomo sieht den Zweijährigen in der Badewanne stehen und herzergreifend schreien. Die Kleider des Kindes sind mit Blut getränkt. Shlomo verliert die Fassung: „Hast Du auch das Kind verletzt?“. Doch Aviad versichert ihm, dem Kind kein Haar gekrümmt zu haben. Er fordert Shlomo dazu auf, die Polizei zu rufen. Noch bevor ein Notarzt am Tatort eintrifft, erreicht ein Polizeikommando die Wohnung. Shlomo führt den Täter zusammen mit einem Polizisten zum Einsatzfahrzeug. Da wendet sich Aviad an Shlomo: „Ist sie tot?“. Adi nimmt das Kleinkind mit zu sich nach Hause und löst ihr Versprechen ein, sich um das Kind zu kümmern.

Bevor sich Shiras Eltern auf den Weg ins Krankenhaus machen, wählt Osnat die Nummer von Aviads Eltern. Sie teilt ihnen mit, dass er ihre Tochter ermordet habe. Seine Eltern sind schockiert. Osnat kann Aviads Vater weinen hören.

Das Urteil im Prozess gegen Aviad Moshe, der wegen versuchten Mordes an seiner Ex-Frau Shira Isakov vor dem Gericht in Beersheva angeklagt wurde, fiel am 25. August 2021. Foto: Flash90

Kritische Notoperation 

Shira wird mit dem Helikopter ins Soroka-Krankenhaus geflogen. In einer stundenlangen Notoperation kämpfen die Ärzte um ihr Leben. Sie wird an Beatmungsgeräte geschlossen und ins künstliche Koma versetzt. Der leitende OP-Arzt überbringt der Familie die Nachricht, die Chancen, dass Shira die Nacht überlebe, lägen bei 20 Prozent. Als die Mutter das Krankenbett sieht, auf dem Shira aus dem OP gefahren wird, bricht sie zusammen. 

Shiras unbändiger Lebenswille

Einige Tage später erwacht Shira. Sie tastet vorsichtig ihr Gesicht ab. Dicke Verbände umhüllen ihren Kopf. Bewegen kann sich die junge Frau nicht. Die Krankenschwestern erklären ihr, dass sie sehr viel Blut verloren hat und Dutzende Transfusionen erhalten musste. Langsam erfasst Shira die Ausmaße des Angriffs. Man berichtet ihr von der Nieren-und Lungenoperation, den schweren Kopfverletzungen, der Halsverletzung, der Verletzung der Augenhöhle, des Kiefers und der rechten Hand. Shira sieht sich selbst erst eine Woche später versehentlich im Spiegel, als sie von der Intensivstation auf die chirurgische Station verlegt wird. Sie erkennt sich nicht. Statt einer bildschönen jungen Frau erblickt sie eine Fremde mit geschwollenem Kopf, geschorenem Haar, Dutzenden Nähten und Narben im Gesicht. Am Hals steckten Metallklammern, die eine tiefe Halswunde verschließen. Es ist die Stelle, an der Aviad versuchte, ihre Halsschlagader zu durchtrennen.

Die einzige Kraft schöpft Shira durch ihren Sohn. Sie weiß, dass sie für ihn stark sein muss. Sie kämpft wie eine Löwin. Ihr Kind befindet sich in der Obhut einer Tante. Er ist das einzige Ziel, das Shira vor Augen hat bei ihrem täglichen Kampf zurück ins Leben. Sie will auf ihren Beinen stehen und ihren Sohn umarmen können, wenn der besondere Tag kommt, an dem sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann. Bis dahin erlaubt Shira nicht, dass ihre Eltern das Kind mit ins Krankenhaus bringen. Ihr Äußeres hätte ihn verstört. Nach einiger Zeit fasste Shira den Mut, über eine Videokonferenz mit ihrem Sohn Kontakt aufzunehmen. Doch er erkennt seine verletzte Mama nicht. Shira suchte nach Möglichkeiten, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass sie wirklich seine Mutter ist. Sie fängt an, ihrem Kleinen die Bücher vorzulesen, die sie ihm damals vor dem zu Bett gehen vorlas. Das Kind lauscht den bekannten Worten und den Kinderliedern. 

Ein besonderer 32. Geburtstag 

Zu Shiras 32. Geburtstag kommt nicht nur Adi, um die junge Kämpferin im Krankenhaus zu besuchen. Es ist der Tag, an dem Shira zum ersten Mal wieder ihren Sohn sehen soll. Fast ein Monat nach dem Übergriff kommen Shiras Eltern mit dem Enkel zu Besuch. Es ist das größte Geschenk, das Shira an diesem Tag erhält. Aber ist das Kind verwirrt. Zwar ist das Mamas Stimme, doch die Frau vor ihm sieht so ganz anders aus. Shira ist enttäuscht, doch sie bemüht sich um Geduld. Sie versteht, was die letzten Wochen, insbesondere die besagte Nacht, ihrem Kind abverlangt haben. 

Bei seinem zweiten Besuch rennt der Kleine aufgeregt seiner Mutter entgegen und fällt ihr in die Arme. Lange Sekunden umklammert er seine Mutter. Shira ist glücklich, dass ihr Sohn sie erkennt. Doch seine kleine Seele hat immer noch mit den traumatischen Erlebnissen zu kämpfen. Shira zieht nach der Entlassung mit ihrem Sohn zu ihren Eltern nach Carmiel. 

Papa ist im Gefängnis“

Shira sitzt mit ihrem Sohn vor Fotos. Auf den Bildern ist die dreiköpfige Familie zu sehen. Aviad, Shira und das Kleinkind. Der Junge inspiziert die Fotos intensiv. Shira erklärt ihm: „Das ist Papa, aber Papa hat etwas Schlimmes getan und ist jetzt im Gefängnis. Aus einem Gefängnis kommt man nicht so einfach frei. Wir werden den Papa so schnell nicht wieder sehen.“ Mit diesen Worten, so einfach wie möglich und dennoch ehrlich, erklärt Shira ihrem Sohn die Situation. Doch das Kind dreht seinen Kopf weg. Mit wütendem Gesichtsausdruck weigert er sich, die Familienfotos weiter zu betrachten. Er dreht sich zu seiner Mutter und umarmt sie fest. Der Weg der körperlichen und seelischen Rehabilitation ist für beide noch lang, doch Shira hat gezeigt, dass sie eine Kämpferin ist. Sie hat wie eine Löwin gekämpft und überlebt.

Aviad Moshe am 22. April 2021 auf der Anklagebank. Shira hat schon heute Angst vor dem Tag seiner Freilassung. Das Strafmaß für versuchten Mord liegt in Israel bei 20 Jahren Haft. Foto: Flash90

Aviad wurde von einem Gericht wegen versuchten Mordes verurteilt. Das Ehepaar ist mittlerweile geschieden, Shira hat das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erhalten. Aviad versuchte selbst aus dem Gefängnis heraus noch Personen zu schicken, die Shira Schaden zufügen sollten.

Shira ist unsere Heldin. Eine Heldin, die mit ihrem Leben den Sieg davon trägt.

Titelbild oben: Shira Isakov (rechts) und Adi Gozy zünden während der Zeremonie zum 73. Unabhängigkeitstag, die am 14. April 2021 auf dem Herzlberg in Jerusalem stattfand, eine Fackel an. Foto: Yonatan Sindel/Flash90

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