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Frühe Jesus-Abbildungen entdeckt

von Ulrich W. Sahm

JERUSALEM, 15.11.2018 – „Plötzlich sah ich ein Auge. Und dann erschien Jesu Gesicht.“ Die Szene klingt wie eine wundersame Bekehrung zu Christentum. Doch handelt es sich um eine archäologische Entdeckung in Schivta, im Süden Israels. Nur wenige frühchristliche Kunstwerke haben im Heiligen Land überlebt. Die „wundersame Erleuchtung“ kam der Kunsthistorikerin Dr. Emma Maayan-Fanar, als sie die Apsis von einer der drei alten Kirchen in Schivta genauer untersuchte. „Sein Gesicht steht genau da und schaut uns an“, sagte sie, als sie das Wandbild ein Jahrhundert nach der Entdeckung und Freilegung des Kirchengebäudes bemerkte.
Schivta liegt im Herzen des Negev, etwa 40 Kilometer südwestlich von Be’er Scheva. Das Dorf wurde im 2. Jahrhundert v. Chr. gegründet und überlebte etwa 650 Jahre. In der frühislamischen Zeit wurde Schivta verlassen.

Wie sah Jesus aus?

Das erste stark erodierte Gemälde von Jesus in Schivta war in der südlichsten Kirche bemerkt worden. Es zeigte Jesu Verklärung, aber sein Gesicht überlebte die Jahrhunderte nicht. Das zweite Bild zeigt Jesu Taufe und sein Gesicht. Die Evangelien beschreiben nicht das Aussehen Jesu. Alle Darstellungen sind spätere Künstlerimpressionen. Während Darstellungen von Jesus in alten Klöstern und Kirchen anderswo reichlich vorhanden sind, hat man im alten Israel praktisch nichts gefunden.
Das neu entdeckte Gesicht aus Schivta des 6. Jahrhunderts zeigt Jesus mit kurzem lockigem Haar, einem langen Gesicht und einer verlängerten Nase, während im Westen Jesus meistens mit fließendem Langhaar und Bart dargestellt wurde.
Die Ruinen von Schivta wurden erstmals 1871 vom Linguisten und Entdecker Edward Henry Palmer gefunden und haben seitdem viel archäologische Aufmerksamkeit erregt. Aber die Archäologen von einst haben wohl die Wandmalereien nicht beobachtet.

„Plötzlich sah ich Augen“

Das jetzt bemerkte Wandbild ist stark beschädigt und weist jahrhundertelange Schmutzschichten auf. Frühere Archäologen dachten, sie hätten etwas gesehen, aber diese Sichtung wurde nie ver

folgt, sagt die Kunsthistorikerin. Sie war mehrmals vor Ort und hatte es nicht bemerkt.

Und dann: „Ich war zur richtigen Zeit da, am richtigen Ort mit dem richtigen Lichtwinkel und plötzlich sah ich Augen“, sagt Maayan-Fanar. „Es war das Gesicht Jesu bei seiner Taufe, das uns ansah.“ Ihr Mann, Dror Maayan, machte hochauflösende Fotos von der Stätte. So wurde das seit über 1.500 Jahren verlorene Bild sichtbar: „Wir können ihn jetzt wirklich sehen.“

 

Wie Jesus aussah, war Gegenstand von heftigen wie sinnlosen Debatten, da es keine zeitgenössischen Beschreibungen seines Aussehens gibt. Das früheste „Porträt“ von ihm wurde in Syrien gefunden und entstand etwa 200 Jahre nach seinem Tod. Jesus wird im Allgemeinen mit braunen Augen dargestellt, basierend auf der allgemeinen (und wahrscheinlich richtigen) Annahme, dass er aussehen musste, wie die Menschen im Nahen Osten vor 2000 Jahren. Tatsächlich aber war die Küsten-Levante von blauäugigen Menschen bevölkert. Vor etwa 6.500 Jahre kamen arische Migranten aus dem Iran und der Südtürkei. Sie vermischten sich mit den Einheimischen. Deshalb hätten Jesu Augen von blau über haselnussgrün bis braun sein können.

Diese Wandmalerei aus dem 6. Jahrhundert zeigt das Gesicht Jesu.

Diese Wandmalerei aus dem 6. Jahrhundert zeigt das Gesicht Jesu.

Was sein Haar betrifft, so ist sein Stil in der christlichen Kunst eine Frage von Zeit und Ort – und das unter der Annahme, dass er kein Kahlkopf war. In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde Jesus auf vielfältige Weise dargestellt: mit kurzen Haaren, langen Haaren, bärtig oder rasiert. Es gab kein Konsensbild. Zum Beispiel zeigen Katakomben in Rom aus dem 4. Jahrhundert Jesus mit kurzen Haaren. So auch die Bilder Jesu, wie sie koptische Christen in Ägypten und frühe Byzantiner in Syrien gezeichnet hatten. Im 6. Jahrhundert wurde Jesus im Westen mit langen Haaren und Bart gezeichnet, während er im Osten noch einige Zeit kurze Haaren trug.

Ältestes Jesusbild in Syrien

Das älteste bekannte Jesusbild fand man in Dura, Syrien (an der Grenze zum Iran). Es wird auf die Zeit von 233 bis 256 datiert. Vor etwa 1.800 Jahren war Dura eine multikulturelle Metropole, in der Juden, Heiden und Christen alle Gotteshäuser für sich beanspruchten. Eine Wandmalerei im Baptisterium der Dura-Europos-Kirche zeigt Jesus als den treuen Hirten, der ein Schaf auf seiner Schulter trägt, im ausgesprochen östlichen Stil. Diese Bilder überlebten, weil Mitte des dritten Jahrhunderts die Stadt zerstört wurde, aber die Wandmalereien mit Sand und Steintrümmern aufgefüllt wurden. So blieben sie erhalten. Die Schivta-Bilder entsprechen dem östlichen Stil.
Die Fotos der Apsis von Schivta seien für Laien nicht sehr hilfreich. Die Wandgemälde müssten restauriert werden, was Zeit und viel Geld benötige. In der Zwischenzeit, so Maayan Fanar, könne „man in der Apsis stehen und Verfärbungen sowie rote Linien sehen“.

Die Hightech-Fotografie half, in der Antike gezeichnete Gesichtszüge zu zeigen und zwei weitere Figuren zu erkennen.
Eine Figur wurde als Johannes der Täufer interpretiert. Er ist groß gezeichnet, während der junge Jesus kleiner dargestellt ist, wie in der byzantinischen Kunst üblich. Das Wandbild befand sich im Baptisterium, nahe dem Taufbecken, was diese Interpretation nahelegt. Die genaue Datierung der Kirchen in Schivta und die Wandmalereien bedürfen noch einer Bestätigung.

Weitere Entdeckungen in Schivta nicht unwahrscheinlich

Das zweite Bild von Jesus in Schivta wurde vor einem Jahr bemerkt. Es ist außergewöhnlich, weil es die „Verklärung“ Jesu zeigt, göttlich strahlend, beim Besteigen des Berges Tabor (alias Kfar Tavor). Bis zum vergangenen Jahr waren nur zwei Darstellungen seiner Verklärung bekannt: Eine in Ravenna, Italien, und die andere im Katharinenkloster auf dem Sinai. Dann, im letzten Jahr, wurde ausgerechnet in Schivta ein drittes Bild gefunden. Maayan Fanar meint, dass die frühchristlichen Künstler diese Szene durchaus aufgegriffen hätten, doch die Bilder hätten nicht überlebt.
Aus der islamischen Zeit stammt eine Moschee nahe der südlichen Kirche. Einige betrachten ihre Nähe als Beweis für religiöses Zusammenleben und Toleranz. Tepper hält das für eine „sentimentale Interpretation“. Denn die Moschee sei vermutlich errichtet worden, nachdem die Kirche schon verlassen war. „Es gibt undatierte arabische Graffitis in der nördlichen Kirche“, sagt Tepper. Arabische Graffitis wurden auch in anderen alten Kirchen im Negev gefunden. Sie beweisen nicht unbedingt ein gutes Zusammenleben.

Die gesamte Anlage erlebte im späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert ihren Untergang, durch Erdbeben oder andere Naturkatastrophen. Übrig blieben nur Ruinen und zwei verwitterte Gemälde von Jesus.
Möglicherweise gibt es noch weitere Bilder, aber die müssten erst noch entdeckt werden. Tatsache ist, dass die Jesus-Abbildungen ein halbes Jahrhundert lang nicht ausgemacht worden sind, obgleich sie nach der Freilegung der Kirchenreste zugänglich waren. Erst mit Spezialkameras wurden die verwitterten Striche und Farben wieder sichtbar.

Foto: Mit Hilfe von High-Tech-Fotografie wird die Darstellung der Verklärung Christi sichtbar. Die Abbildung wurde in einer Kirche in Schivta entdeckt. Quelle: Dror Maayan / Archiv Sahm.

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