Erbgut-Untersuchungen ermöglichen neue Sicht auf die Schriftrollen vom Toten Meer
JERUSALEM, 05.06.2020 (TPS/TM) – Eine Untersuchung des Erbguts der über 2000 Jahre alten Schriftrollen vom Toten Meer hat den Forschern neue Einblicke in das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels ermöglicht. Fast alle Schriftrollen bestehen aus Tierhäuten. Die Wissenschaftler gingen in einer sieben Jahre dauernden Studie den Ursprüngen dieser Tierhäute nach. Die Ergebnisse öffneten ein neues Fenster in die geografische und chronologische Entwicklung des biblischen Kanons.
Häute von Schafen und Kühen untersucht
„Es gibt viele Schriftrollen-Fragmente, von denen wir nicht wussten, wie wir sie verbinden sollen. Wenn wir falsche Teile miteinander verbinden, kann dies die Interpretation einer Schriftrolle dramatisch verändern“, erklärte Professor Odet Rechavi von der Universität Tel Aviv. „Wenn wir jetzt annehmen, dass Fragmente, die aus denselben Schafen hergestellt wurden, zu derselben Schriftrolle gehören, ist es, als würde man Teile eines Puzzles zusammensetzen.“
Die Schriftrollen vom Toten Meer bestehen aus etwa 25.000 Fragmenten, die bereits 1947 entdeckt wurden, hauptsächlich in den Qumran-Höhlen, aber auch an anderen Orten in der judäischen Wüste. Die Schriftrollen enthalten die ältesten Exemplare biblischer Texte, beispielsweise die berühmte Rolle mit dem Buch des Propheten Jesaja.
Fast alle Rollen wurden auf Schafhäute geschrieben. Nun wurde jedoch festgestellt, dass zwei Fragmente aus Rindsleder hergestellt wurden. Diese gehören zu zwei verschiedenen Fragmenten aus dem Buch Jeremia. „Bisher wurde angenommen, dass eines der aus Kuhhaut hergestellten Fragmente zu derselben Schriftrolle gehört wie ein anderes Fragment, das aus Schafhaut hergestellt wurde. Das ist nun offiziell widerlegt“, erläuterte Professor Rechavi.
Die Haltung von Kühen erfordert Gras und Wasser. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Rindsleder nicht in der Wüste verarbeitet wurde, sondern von einem anderen Ort in die Qumran-Höhlen gebracht wurde. Dieser Befund ist von entscheidender Bedeutung, da die Rindsleder-Fragmente von zwei verschiedenen Exemplaren des Buches Jeremia stammen, die vom heutigen biblischen Text abweichen.
Unterschiedliche Textversionen
Seit der Spätantike ist der biblische Text fast vollständig einheitlich. Eine Thora-Schriftrolle in einer Synagoge in Kiew ist in jedem Buchstaben identisch mit einer in Sydney. Im Gegensatz dazu fanden die Wissenschaftler in Qumran in derselben Höhle verschiedene Versionen desselben Buches. Damals war der exakte und letztlich verbindliche Inhalt der hebräischen Bibel, des sogenannten Alten Testaments, noch nicht festgelegt. Die Forscher sind der Auffassung, dass für die Gläubigen damals die wichtigsten Aspekte der Texte deren Inhalt und Bedeutung waren, nicht der präzise Wortlaut und die Rechtschreibung.
Bild: Tatyana Bitler ist eine der wenigen Konservatorinnen, die im Labor der israelischen Altertumsbehörde in Jerusalem mit den Originalen der berühmten Schriftrollen umgehen dürfen. Foto: Fokus Jerusalem