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Hat sich die Hamas verschätzt?

GAZA, 12.05.2021 (DK) – Der Nahostkonflikt flammt auf wie schon seit Jahren nicht mehr. Für viele Israelis bedeutet das Leben unter dauerhaftem Raketenbeschuss ein Zurück in den Albtraum. Israel hat dem derzeitigen Konflikt bereits den Namen “Wächter auf den Mauern” gegeben. Das kleine Land wehrt sich gegen die Angriffe der radikalislamischen Terrororganisation Hamas, die eine neue Eskalationsstufe eingeleitet hat. Dabei maßt sich die Gruppierung an, für das gesamte palästinensische Volk zu sprechen. Am Montagabend stellte sie an Israel die utopische Forderung, dass sich die israelischen Sicherheitskräfte vom Tempelberg zurückziehen. Nach Ablauf der Frist flogen die Raketen auf Jerusalem und wenig später auch auf Tel Aviv. Doch damit hatte die Hamas eine rote Linie überschritten und unabsehbare Konsequenzen in Kauf genommen. 

Hamas nutzt Identitätskrise der Palästinensischen Autonomiebehörde aus

Dass die Hamas gerade jetzt Israel unter Beschuss nimmt, setzt sich aus einer Vielzahl von Faktoren zusammen. Wichtig ist, dass sie sich politisch als die einzige Partei etablieren will, die es wagt Israel die Stirn zu bieten. Bei den verzögerten palästinensischen Wahlen, die ursprünglich auf den 22. Mai angesetzt waren, hat sich die Gruppierung gute Chancen auf einen Sieg ausgerechnet. Da diese nun wieder nicht stattfinden, sucht die Organisation nach neuen Möglichkeiten zur Machtübernahme. 

Der Moment für das Manöver gut gewählt. Die politischen Rivalen der Hamas, die Palästinensische Autonomiebehörde unter der Leitung von Mahmoud Abbas, erlebt die vielleicht schwerste Identitätskrise seit ihrer Gründung. Als die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Sudan und Marokko im vergangenen Jahr erstmals diplomatische Beziehungen mit dem jüdischen Staat aufnahmen, schien es als würde Ramallah seine ältesten Verbündeten verlieren. Während die Autonomiebehörde sich von dem Schock nicht recht zu erholen schien, ging die Hamas auf Partnersuche und fand mit dem Iran und der Türkei neue Freunde. Nach Außen zeichnet sich für die palästinensische Öffentlichkeit damit ein klares Bild ab: Anders als Abbas und Konsorten, wagt es die Terrororganisation, Israel die Stirn zu bieten. Das Raketenfeuer ist demnach auch eine politische Strategie: Die Hamas will der palästinensischen Öffentlichkeit beweisen, dass sie allein Israel gewachsen ist. 

Auch die israelisch-arabische Gesellschaft ist auf der Suche nach einer starken Regierung. In den vergangenen Jahren erlitten die Bewohner zahlreicher arabischer Städte im Staatsgebiet Angriffe krimineller Banden. Menschen wurden auf offener Straße niedergeschossen. Immer wieder wurden Stimmen laut, die ein unzureichendes Eingreifen vonseiten der Politik und Polizei anprangerten, ohne dass sich viel änderte. Weiterhin trug die Coronakrise zur allgemeinen Frustration bei, denn arabische Israelis waren in vielen Sektoren angestellt, die seit Februar 2020 hohe Einbußen eingefahren haben. Diese Stimmung hat die Hamas für ihre eigenen Zwecke genutzt, indem sie die Proteste auf Israels Straßen kaperte.

Die Hamas könnte die Situation falsch eingeschätzt haben

“Deif, feuer auf Tel Aviv”, skandierten Demonstranten auf dem Tempelberg bei den jüngsten Protesten. Der Hamas-General Mohammed Deif hat diese Worte scheinbar sehr ernst genommen, vielleicht ohne sich ganz der Tragweite der darauffolgenden Angriffe bewusst zu sein. Während der vielen Jahre unter der Netanjahu-Regierung war es immer wieder zu kurzen Schlagabtauschen gekommen, jedoch ohne dass dies verheerende Folgen für die Terrorgruppe gehabt hätte. DIe Hamas scheint damit zu rechnen, dass Israel es auch diesmal eilig haben wird den Konflikt wieder zu beenden. Doch Verteidigungsminister Benny Gantz kündigte an, dass nun andere Saiten aufgezogen werden. Israels erste Vergeltungsschläge haben gezeigt, dass mit den Raketenangriffen auf Jerusalem und Feuer auf Tel Aviv endgültig eine rote Linie überschritten worden ist. 

Es bleibt unklar, ob die Hamas sich für eine derartige Eskalation gewappnet hat. Am Montagabend, nachdem sie “Siegesbilder” von dem Angriff auf Jerusalem für ihre Propagandazwecke hatten, baten sie bereits um ein Waffenstillstandsabkommen. Israel lehnte jedoch ab, da sie sich genötigt sahen auf die vorhergegangenen Raketenangriffe zu reagieren. Der Konflikt könnte demnach länger anhalten, als die Hamas sich das ausgerechnet hat. 

Bild: Palästinenser schwenken ihre Flagge und Hamas-Banner bei einem Protest in der Jerusalemer Nachbarschaft Sheikh Jarrah. Quelle: Jamal Awad/Flash90

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