Kommentar: Tel Aviv und der Fluch des Strukturwandels
von Katharina Höftmann
TEL AVIV, 30.01.2022 (TM) – Wenn man mich nach meinen Lieblingsorten in Tel Aviv fragt, muss ich nicht lange überlegen: Da ist natürlich das Meer und der Strand. Da sind drei, vier Restaurants, in denen es wirklich immer schmeckt und Spass macht. Vor allem aber ist da das Teder. Ich nenne diesen Ort gerne unseren Dschungel, weil er in seiner Grösse und Wildheit selten ist in diesem engen Tel Aviv. Das Teder, benannt nach einem Radiosender, der von dort sendet, ist eine Bar, eine Galerie, eine Pizzeria. Oben das Restaurant Romano, unten eine Art Biergarten und noch ein Club. Dazwischen normale Geschäfte in einer Art grossem, wild bewachsenen Innenhof. Auf diesem Hof tobt jede Nacht das Leben. Ein Spielplatz für Erwachsene. Es finden Konzerte statt, Vorstellungen, Second-Hand-Märkte, es werden Herzen gebrochen und Füsse wundgetanzt. Mich persönlich erinnert das Teder an Berlin, und zwar an Berlin bevor dort überall die grossen Immobilienentwickler kamen, um der Stadt ihre lässige Attitüde abzukaufen.
An jeder Ecke ein neues Hotel
Als ich erfuhr, dass das gesamte Teder-Gelände verkauft wird und dort schon bald ein weiteres Hotel entstehen soll, konnte ich es nicht glauben. Also das mit dem Hotel schon, denn während es in Tel Aviv kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt, entsteht an jeder Ecke ein neues Hotel. Aber nun soll es auch unseren Dschungel erwischt haben? Einen der letzten Orte in Tel Aviv, an dem die Kunst und das Vergnügen wirklich Platz haben? Einen der letzten Orte in Tel Aviv, an dem noch eine gewisse künstlerische Anarchie herrscht und nicht alles glattgebügelt wurde? Das brach mir ein wenig das Herz. Tel Aviv ist nicht schön. Tel Aviv ist nicht ordentlich. Der ganze Charme der Stadt liegt in seiner Improvisationskunst, in seinem jugendlichen, unfertigen Charisma. Aber genau diese Eigenschaften werden der Stadt mehr und mehr genommen. Teure Eigentumswohnungen in hohen Türmen und Hotels über Hotels scheinen das einzige Neue zu sein, was in Tel Aviv noch entsteht.
Ich hatte mich noch kaum von der Teder-Nachricht erholt, als ich in der Haaretz las, dass nun auch der Shuk HaKarmel, der berühmte Markt inmitten Tel Avivs, „renoviert“ werden soll. Renoviert heisst in diesem Fall, dass die komplette Gegend im Westen des Marktes neu gemacht und mit neuen Plätzen und Infrastruktur versorgt werden soll. Ein Foto davon, wie das Ganze am Ende aussehen soll, gab es zur Meldung auch. Dort sieht man einen sterilen Betonplatz mit drei, vier Bäumen und eine Menge Ladengeschäfte drumherum. Der letzte übriggebliebene Gemüsestand, ein Stillleben von Kühle und Metall, mehr nicht.
Jeder der schon einmal auf dem Karmel-Markt in Tel Aviv war, weiss, schön ist es da nicht. Im Gegenteil, hier stinkt es nach Fisch, dort schreit einem ein Gemüseverkäufer ins Ohr. Es ist immer viel zu voll und viel zu heiss und im Winter viel zu nass und viel zu schmutzig. Und ich bin wirklich gar kein Fan von falscher Sentimentalität gegenüber Dingen, die dringend verbessert werden müssen, aber vielleicht sollte die Stadt Tel Aviv lieber mit ihren Wohnbedingungen für die Anwohner beginnen.
Straßen werden zu Flüssen
Im Moment ist nämlich Winter und ich kenne niemanden, bei dem es nicht irgendwo in die Wohnung reinregnet oder von der Decke tropft. Wenn es wie aktuell mal drei Tage am Stück regnet, kann man manche Strassen kaum überqueren, weil sich, aufgrund der überforderten Kanalisation, ganze Flüsse angesammelt haben. DAS sind die Sachen, die in Tel Aviv modernisiert und renoviert werden sollten. Wir brauchen nicht noch mehr Hotels, die kaum einer bezahlen kann und auch keinen glattgebügelten Markt, dem jeglicher Charakter genommen wurde. Wir brauchen eine echte Stadt, in der man leben kann und will.
Titelbild: Das Teder in Tel Aviv – ein großer Spielplatz für Erwachsene. Foto: Miriam Alster / Flash 90