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Kommentar: Israel ohne Netanjahu?

von Tommy Mueller

Benjamin Netanjahu ist davon überzeugt, dass er als einziger Israels Zukunft sichern kann. Sein Problem ist, dass immer weniger Israelis diese Ansicht teilen. Tatsächlich hat der 69-jährige beachtliche Erfolge vorzuweisen: Israel wurde zur Start up-Nation und ist führend bei Software-Entwicklungen. Wirtschaft und Tourismus boomen. Netanjahu hat es geschafft, sein Land aus großen Kriegen heraus zu halten. Die Kanäle zu Ägypten und Jordanien sind gut wie nie, hinter den Kulissen läuft ein enger Austausch der Geheimdienste, auch mit Staaten wie Saudi-Arabien.

Doch Netanjahus ständiger Verweis auf die Bedrohung durch den Iran und radikale Palästinenser ist vielen Israelis zu wenig. Sie nehmen „Bibi“ übel, dass er sich seit Jahren von seinen ultraorthodoxen Koalitionspartnern erpressen lässt. Die werden nicht zum Militärdienst eingezogen, erhalten hohe Zuschüsse für ihre Bibelschulen, viele Familien leben von Sozialhilfe und Kindergeld.

Etliche Wähler mögen sich auch einen Regierungschef gewünscht haben, der nicht ständig gegen die Linken hetzt, gegen die Araber, die Medien, die Polizei und die Justiz. Der standhafter ist gegenüber den Wünschen von Siedlern und Religiösen, der nicht im Wahlkampf allen alles verspricht und hinterher fast nichts umsetzt. Immer weniger Wähler glauben, dass Israel ohne Netanjahu im Chaos versinken wird.

Herausforderer Benny Gantz hat versprochen, gegen die Ungerechtigkeiten in der israelischen Gesellschaft vorzugehen. Aber er wirkt oft hölzern, fremdelt mit Mikrofonen und Fernsehkameras und vermeidet es, klare Aussagen zu treffen. Ein Mann der leisen Töne in einem lauten Land. Am Ende wusste niemand so genau, wofür er und sein Kompagnon, der frühere Fernsehmoderator Yair Lapid, eigentlich stehen.

Um Regierungschef zu werden, müsste sich Gantz auf die arabischen Parteien stützen, die 20 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Deren Führer haben Sympathie für Terroranschläge gegen Juden geäußert und Boykotte gegen den jüdischen Staat befürwortet. Sie in der Regierung zu sehen, ist für die meisten Juden eine Horrorvorstellung.

So ist auch nach der zweiten Wahl in diesem Jahr offen, wer künftig in Jerusalem regiert. Eine Schlüsselposition kommt Avigdor Lieberman zu, dem Chef der nationalistischen „Israel Beytenu“. Ohne die neun Sitze seiner vor allem von russischen Einwanderern unterstützten Partei hat keines der beiden Lager eine Mehrheit. Lieberman hat am Mittwoch einen Forderungskatalog vorgelegt: Militärpflicht für die Ultraorthodoxen, Vermittlung von allgemeinen Lehrstoff wie Mathematik und Englisch an den Schulen der Strengreligiösen, Öffnung von Geschäften und öffentlicher Nahverkehr am Schabbat.

Harter Tobak für die Vertreter von Schas und Vereinigtem Thora-Judentum – aber bei einer linksorientierten Regierung unter Gantz erginge es ihnen nicht besser. Also doch mit Netanjahu koalieren und versuchen, Lieberman Zugeständnisse abzuringen? Von Israel Beytenu gab es am Nachmittag Signale, dass man durchaus bereit sei, mit den Ultraorthodoxen zu reden. Mit einer Koalition, an der auch die Araber beteiligt sind, will Lieberman dagegen nichts zu tun haben – dieser Gedanke sei „absurd“, unterstrich er.

So könnte es am Ende doch wieder auf Netanjahu hinaus laufen. Er ist ein gerissener Machtmensch, der jede Chance nutzen wird, an der Spitze des Landes zu bleiben. Möglicherweise haben sich die Araber und die israelischen Linken, die heute öffentlich das Ende seiner Ära bejubelten, einmal mehr zu früh gefreut.

Foto: Der Wahlkampf ist vorüber – weder die Anhänger des Likud noch von Blau-Weiß haben Grund zu jubeln. Foto: Hadas Parush / Flash 90

Der Autor: Tommy Mueller leitet die Redaktion von Fokus Jerusalem.

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