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Nach dem Sturm aufs US-Kapitol sehen Politiker Israels Demokratie in Gefahr

JERUSALEM, 10.01.2021 (TM) – Wie stabil ist Israels Demokratie? Diese Frage wird kontrovers diskutiert, nachdem in der US-Hauptstadt Washington das Kapitol von Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und Trump-Anhängern gestürmt wurde. Einige israelische Politiker sehen die Demokratie im Heiligen Land durch Regierungschef Benjamin Netanjahu beschädigt. Andere halten die Anti-Netanjahu-Demonstranten für die größere Gefahr.

Angriffe Netanjahus auf Polizei und Justiz

Der frühere israelische Justizminister Avi Nissenkorn sagte, die Ereignisse in den USA hätten bewiesen, dass Demokratie „zerbrechlich“ ist. Er warnte, dass die junge Demokratie Israels in einem noch schwierigeren Zustand sei als in den USA. Kritiker haben Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beschuldigt, demokratische Institutionen durch wiederholte Angriffe auf die Legitimität der Gerichte, der Staatsanwaltschaft und der Polizei untergraben zu haben. Er hatte die Korruptionsermittlungen gegen ihn als Verschwörung der Linken dargestellt, die ihn gemeinsam mit voreingenommenen Medien aus dem Amt treiben wollten. Nissenkorn beklagte in einem Interview, während seiner Amtszeit sei Druck auf den Generalstaatsanwalt und den Obersten Gerichtshof ausgeübt worden. Man habe Richtern Untersuchungsausschüsse angedroht und versucht, den Regierungschef per Gesetz vor Strafverfolgung zu bewahren. Die fortwährende Hetze habe Wirkung gezeigt. Nun müssten die Strafverfolger im Fall Netanjahu von Leibwächtern geschützt werden. 

Nissenkorn ist kürzlich zurückgetreten, hat die Blau-Weiß-Partei von Verteidigungsminister Gantz verlassen und sich der neuen linken Partei des Tel Aviver Oberbürgermeisters Ron Huldai angeschlossen.

Netanjahu sät Zweifel“

Doch nicht nur linke Politiker kritisieren Netanjahus Angriffe auf das rechtsstaatliche System. Auch Gideo Sa’ar, der kürzlich Netanjahus Likud-Partei verlassen und eine eigene konservative Partei gegründet hat, beschuldigt Netanjahu, Zweifel am Rechtsstaat zu säen. Unter Netanjahus Herrschaft gebe es gezielte Angriffe auf alle Institutionen des Staates, vom Präsidenten über die israelische Polizei bis hin zum zentralen Wahlkomitee.

Politiker der regierenden Likud-Partei sehen indes in den Demonstranten, die seit Monaten jeden Samstagabend gegen Netanjahu auf die Straße gehen, die größere Gefahr. Der Abgeordnete Miki Zohar verglich die Trump-Anhänger, die das Kapitol stürmten, mit den Israelis, die vor der Residenz von Netanjahu protestieren. Die liefern sich regelmäßig kleinere Scharmützel mit der Polizei, jede Woche kommt es zu einigen Verhaftungen. Im Gegensatz zu den USA werden bei den Demonstrationen in Israel aber weder rechtsradikale noch antisemitische Symbole präsentiert, die Teilnehmer sind unbewaffnet, und es ist auch von keiner „Weltverschwörung“ der Eliten die Rede.

Residenz besser geschützt

Netanjahu-Anhänger bezeichneten die Demonstranten als „Anarchisten“. Weil die israelische Polizei fürchtet, die Protestierer könnten die Residenz des Regierungschefs stürmen, wurde die nun mit Stacheldraht zusätzlich gesichert. Es wurde auch bekannt, dass Netanjahu kürzlich in Sicherheit gebracht wurde, während ihn vor seinem Amtssitz Tausende als kriminell beschimpften.

Staatspräsident Reuven Rivlin beschwor in einer Videobotschaft die Einheit des israelischen Volkes: 

„Wir müssen sicherstellen, dass unsere Demokratie uns als Volk, als Gesellschaft und als Staat schützt, auch wenn die Gräben tief sind.“

Bild: Eine Szene von gestern Abend: Netanjahu-Gegner, einige davon kostümiert, protestieren in Jerusalem vor der Residenz des Ministerpräsidenten. Das ist auch während des Lockdowns erlaubt. Foto: Yonatan Sindel / Flash 90

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