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Helden ohne Umhang (6): Die mutigen Retter des Fluges 219

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 28.05.2021 – Der 6. September 1970 sollte nicht nur als „Schwarzer Tag“ in der Geschichte der Luftfahrt eingehen. Eine Reihe von Ereignissen, die selbst in einem Hollywood-Drehbuch als unglaubwürdig abgestempelt würden, kann nur als göttliches Eingreifen gedeutet werden.
Flugkapitän Uri Bar-Lev, der als 16-Jähriger im israelischen Unabhängigkeitskrieg und später in der Suezkrise als Kampfpilot diente, saß im Cockpit eines ElAl-Linienfluges von Amsterdam nach New York. An Bord waren 138 Männer, Frauen und Kinder sowie zehn Besatzungsmitglieder. Die meisten Passagiere waren jüdische Amerikaner. Der Flug war kein Direktflug, und so wurde am Schiphol-Flughafen in Amsterdam der Verbindungsflug nach London angetreten, mit Uri Bar-Lev als Kapitän und Uri Zach als Flugingenieur.

Ein hochrangiger Flughafen-Sicherheitsbeamter trat vor dem Abflug an Bar-Lev heran und setzte ihn davon in Kenntnis, dass es vier verdächtige Passagiere gäbe, für die in letzter Minute Flugtickets gekauft worden waren. Zwei der Fluggäste hätten senegalische Pässe, mit verdächtig aufeinander folgenden Passnummern, die anderen beiden seien ein junges Paar aus Honduras. Uri Bar-Lev untersagte den beiden Senegalesen das Einsteigen und forderte die örtlichen Sicherheitsbeamten dazu auf, das junge Pärchen einem umgehenden Sicherheitscheck zu unterziehen. Der ElAl-Kapitän wusste jedoch nicht, dass das junge Paare nicht kontrolliert wurde und so Handgranaten und Schusswaffen an Bord schmuggeln konnte.

An Bord des Flugzeuges befanden sich zwei bewaffnete Luftmarschalls. Einer der beiden, Avihu Kol, saß alleine in der ersten Klasse der Maschine. Es war für alle Passagiere offensichtlich, dass es sich bei der Person in der exklusiven Klasse um einen Luftmarschall handeln muss. Ein schlechtes Bauchgefühl brachte Bar-Lev dazu, den zweiten Sicherheitsbeamten Avihu Kol aufzufordern, entgegen den Bestimmungen für internationale Flüge mit ihm im Cockpit zu sitzen. Als sich die Boeing 707 den Küsten Großbritanniens näherte, leuchtete im Cockpit das Notlicht auf. Zuerst nahmen die Piloten an, eine der Stewardessen habe versehentlich den Schalter betätigt, doch schnell erkannten sie das Horrorszenario: Das Flugzeug wurde entführt.

Eine koordinierte Entführung
Sekunden später wurde klar, dass es sich bei dem jungen, freundlichen Paar aus Honduras um zwei Terroristen der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ handelte. Die Terroristen waren Leila Khaled, die bereits ein Jahr zuvor an einer Flugzeugentführung beteiligt war, und der aus Nicaragua stammende Farick Arguelo, ein Mitglied der sandinistischen Guerilla-Organisation. Leila Khaled, nach der gefahndet wurde, hatte sich plastischen Schönheitseingriffen unterzogen und konnte so unerkannt an Bord der israelischen Maschine gelangen.

Zeitgleich wurde berichtet, dass es sich bei den senegalesischen Passagieren, denen der Antritt des Fluges verwehrt wurde, ebenfalls um Terroristen handelte. Drei weitere Flugzeuge wurden am gleichen Tag entführt und zu Landungen auf abgelegenen Wüstenlandebahnen in Syrien und Jordanien gezwungen.

Die beiden Terroristen an Bord des Fluges 219 nahmen eine der Flugbegleiterinnen als Geisel und drohten mit ihrer Ermordung, sollten die Piloten sich weigern, die Tür des Cockpits zu öffnen. Mit Handgranaten und Maschinengewehr bewaffnet, versuchten sie das Cockpit zu stürmen. Der Flugbegleiter Shlomo Vider eilte seiner Kollegin zu Hilfe. Der Terrorist Arguelo schoss ihm ins Bein.

Nach den Regeln der „International Air Transport Association“ ist ein Flugkapitän für das Wohlergehen seiner Passagiere verantwortlich und muss daher den Forderungen der Terroristen nachkommen. Doch Bar-Lev verweigerte den Zugang zum Cockpit. Er wusste, dass dann eine Landung im feindlichen Syrien erzwungen würde, die das Todesurteil für die 150 jüdischen Personen an Bord wäre. Er entschied sich mit seiner Boeing 707 für ein steiles und gefährliches Flugmanöver, das er als Kampfpilot in der israelischen Luftwaffe gelernt hatte.

Kampfjet-Manöver mit Boeing 707

Trotz der Unsicherheit, ob die Maschine die Fliehkräfte dieses Manövers aushalten könne, ohne zu zerbrechen, forderte Bar-Lev den Luftmarschall und seinen Flugingenieur dazu auf, sich festzuhalten. Er werde das Flugzeug in einen „Tauchgang“ stürzen. Die negative g-Kraft, ähnlich dem Gefühl einer steilen Achterbahnfahrt, würde zwei Dinge erreichen: Die Höhe des Flugzeuges würde auf drastische Weise verringert, was die Entführer aus dem Gleichgewicht und zu Fall bringen sollte; der geringere Druckunterschied zwischen dem Flugzeuginneren und -äußeren würde ein Einschussloch oder eine Granatexplosion weniger gefährlich machen. Die Passagiere, so nahm der Kapitän an, waren alle angeschnallt und würden sich so bei dem Manöver keine schweren Verletzungen zuziehen.

Shlomo kämpft gegen die Terroristen

Zur gleichen Zeit entschied sich der bereits verletzte Flugbegleiter Shlomo Vider, eine Entführung mit aller Kraft zu vereiteln. Der ehemalige israelische Soldat fasste den Entschluss, gegen die Terroristen zu kämpfen, auch wenn er diese Entscheidung mit dem Leben bezahlen müsse. Er warf sich auf den Terroristen Arguelo und versuchte ihm seine Waffe zu entreißen. Vider wurde mit einem schwerwiegenden Schuss in die Schulter verletzt, konnte jedoch Arguelo mit zu Boden reißen.


Ein Graffiti der Terroristin Leila Khaled auf der Sicherheitsmauer Nähe Betlehem. Sie wurde als „Postergirl“ der palästinensischen Militanz bezeichnet. Foto: Alana Perino/Flash90

Ohne das Ganze miteinander abgesprochen zu haben, stürzte das Flugzeug in diesem Moment in den Tauchgang. Die Maschine fiel mit der unglaublichen Geschwindigkeit von 855 Kilometern pro Stunde in die Tiefe. Die Geschwindigkeit glich der eines freien Falles. Das Flugzeug drohte durch den enormen Druck zu zerbrechen. Nur 3048 Meter über dem Erdboden stoppte Bar-Lev den freien Fall. Luftmarschall Avihu Kol stürmte aus dem Cockpit und erschoss den Terroristen Arguelo. Leila Khaled warf ihre entsicherte Handgranate, die jedoch wie durch ein Wunder nicht explodierte. Die Flugbegleiter übermannten die Terroristin und knebelten sie mit Krawatten.

Gegen Befehl des Geheimdienstes

Über Funk wurde Bar-Lev dazu aufgefordert, nicht wie geplant zum Flughafen in London zurück zu fliegen, sondern direkt Tel Aviv anzusteuern. Nur so hätte der Geheimdienst seine Hand an Leila Khaled legen können. Auch versuchte man durch die Rückkehr nach Israel die Festnahme des bewaffneten Luftmarschalls, der sich der Gesetzeslage zufolge vor Gericht hätte verantworten müssen, zu umgehen. Doch Bar-Lev war klar, dass er in London landen musste, um dem angeschossenen Flugbegleiter Shlomo Vider das Leben zu retten. Vider wurde zuvor von einem Zahnarzt im Flugzeug untersucht. Die Chancen für den mutigen Steward, die Schussattacken zu überleben, standen sehr schlecht. Einen Rückflug nach Israel würde er niemals überleben. Bar-Lev widersetzte sich den direkten Befehlen des israelischen Geheimdienstes und landete in London. Über Funk plante er mithilfe eines anderen ElAl-Piloten, der mit seiner Maschine den Flughafen in London in den kommenden Minuten verlassen sollte, die Flucht der beiden bewaffneten Luftmarschalls. Bar-Lev würde mit seiner Boeing in der Nähe des zweiten ElAl-Flugzeuges landen und die Sicherheitsmänner würden über die Wartungstüren zwischen den Rädern des Flugzeuges die Maschine verlassen. Auf dem gleichen Weg würden sie das gegenüberliegende Flugzeug besteigen. Die beiden Kapitäne hofften, dass in der Aufregung, die am Londoner Flughafen ausgebrochen war, die Flucht der beiden Männer unbemerkt bleibt. Der Plan glückte.

Nachdem Bar-Lev das Flugzeug zum Stillstand brachte, wurde der verletzte Vider in ein örtliches Krankenhaus gebracht und behandelt. Die Ärzte berichteten, dass der junge Mann nur fünf Minuten später ausgeblutet und nicht mehr zu retten gewesen wäre.

Bar-Lev und seine Crew im Verhör
Der Kapitän und der Rest seiner Besatzung wurden von britischen Geheimdiensten verhaftet und zum Tod des Terroristen an Bord ihres Flugzeuges verhört. Das gesamte Flugpersonal hielt an ihrer Aussage fest, sie hätten nicht mitbekommen, wie der Terrorist erschossen worden sei. Bar-Lev und die Crew wurden am nächsten Tag freigelassen. Die britischen Behörden wussten, dass sie lügen, konnten aber keine Beweise finden, um das Gegenteil zu beweisen.

Leila Khaled wurde verhaftet und blieb im Vereinigten Königreich. Sie wurde drei Wochen später aus britischer Haft entlassen, nachdem am 9. September auf dem Weg von Bahrain ein britisches Flugzeug entführt worden war, um ihre Freilassung zu erreichen. Heute ist Khaled Teil des palästinensischen Nationalrats. Sie wird bis heute von israelfeindlichen Organisationen weltweit als Rednerin eingeladen, die Palästinenser haben Schulen nach ihr benannt.

Der heldenhafte ElAl-Kapitän Bar-Lev, der heroische Kampf des Flugbegleiters Vider, der sich ohne Absprache mit dem Kapitän auf den Terroristen stürze, zeitgleich mit dem freien Fall der Boeing, eine Handgranate, die nicht explodierte: eine Verkettung von unglaublichen Ereignissen und Heldentaten, die sich nicht einmal ein Hollywood-Regisseur ausdenken könnte.

Der Kapitän und seine Crew, die das Leben ihrer Passagiere vor das eigene stellten, sind unsere Helden. Statt Umhang tragen sie ElAl-Uniformen.

Titelbild: Flugzeuge der israelischen Airline ELAL. Foto: Moshe Shai/Flash90

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