zurück zu Aktuelles

Eine Atmosphäre der Angst: Politiker sehen sich zunehmend Drohungen ausgesetzt

JERUSALEM, 09.06.2021 (DK) – Die politische Atmosphäre in Israel ist zum Zerreißen gespannt. Acht Parteien wollen sich gegen den amtierenden Premierminister Benjamin Netanjahu zusammenschließen. Doch dieser lässt nicht locker und versucht noch bis zum letzten Moment Oppositionspolitiker auf seine Seite zu ziehen. Während im Parlament nur hitzige Debatten stattfinden, ist das Leben außerhalb der Knesset für so manchen Politiker gefährlich geworden. Drohbriefe haben sowohl rechte als auch linke Parteien der angekündigten “Regierung der Veränderung” erreicht. Der Leiter des Inlandsgeheimdienstes, Nadav Argaman, warnte aufgrund der aufgeheizten Lage in einer ungewöhnlichen Mitteilung vor verbaler Hetze. Wenn dem polarisierendem Diskurs kein Einhalt geboten wird, wird bald jemand verletzt, so Argaman.

Todesdrohungen gegen Familien von Politikern

Die politischen Gräben im Heiligen Land werden nicht nur zwischen rechts und links, jüdisch und palästinensisch, sondern auch zwischen religiös und säkular immer tiefer. Aufgrund der zunehmenden Radikalisierung beider Seiten, kommt es vermehrt zu echter Gewaltbereitschaft gegen das jeweils andere Lager. In diesen Tagen muss Tamar Zandberg, bekennende Atheistin und Mitglied der linksextremen Meretz-Partei, nicht nur um ihr eigenes Leben fürchten: Auch ihrem Partner und ihren gemeinsamen Kindern wird im Netz Gewalt angedroht. Die Hassbotschaften begannen kurz nachdem Bilder eines alten Gesetzentwurfs ihrer Partei in den sozialen Medien kursierten. Bei dem Vorschlag ging es um ein Verbot von “Missionsversuchen” an jüdischen Minderjährigen durch jüdisch-orthodoxe Organisationen, vor allem der Chabad. Obwohl es nie zu einer Verabschiedung des Gesetzes kam, führte die Hetzkampagne im Internet zu Todesdrohungen. 

Doch auch im national-religiösen Lager kämpfen Politiker mit der neuen Atmosphäre der Angst. “Ich fühle mich nicht mehr sicher”, erklärte Idit Silman, Mitglied der rechtsgerichteten Yamina-Partei. Ihrem Sohn, der derzeit die sechste Klasse besucht, sei gesagt worden, dass seine Mutter “in der Hölle schmoren wird”. Sie deutete zudem an, dass Proteste vor ihrem Haus von Verbündeten des Premiers finanziert würden. Silman hat einen Antrag bei der Regierung für erhöhten persönlichen Schutz eingereicht. Jeden Morgen folge ihr ein Auto mit einem Lautsprecher. “Sie folgen mir von dem Moment da ich das Haus verlasse und dann überall hin”, erzählte die 40-Jährige. Um ihre Kinder nicht zu gefährden, hat die Familienmutter es vorerst aufgegeben, ihre Zöglinge morgens in die Schule zu fahren. Ihre Mitstreiterin Ayelet Shaked hatte erst kürzlich aufgrund einer ähnlichen Situation zusätzliches Sicherheitspersonal von der Knesset genehmigt bekommen.

Hetzkampagnen in Israels sozialen Medien nehmen zu

Noch vor wenigen Wochen war Israel von einer Welle der Mobgewalt überrollt worden. In den Medien war von bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Rede. Ob die ethnisch motivierten Gewaltausbrüche mit den Hetzkampagnen auf Politiker in einem Zusammenhang stehen, ist noch unklar. In jedem Fall herrscht ein politisches Klima, in dem Randgruppen sich weiter radikalisieren. „Der aktuelle Diskurs kann von bestimmten Gruppen oder Einzelpersonen dahingehend interpretiert werden, dass gewalttätige und illegale Aktivitäten legitimiert werden und Einzelpersonen geschadet wird“, erklärte Argaman in einer denkwürdigen Rede, die sich auf das allgemeine Phänomen der zunehmenden Hetze in den sozialen Medien bezog. Auch ein wackliges acht-Parteien-Bündnis wird es zukünftig schwer haben, diesem Trend Einhalt zu gebieten.

Bild: Die Politikerin Idit Silman, die von Fremden verfolgt wurde, bei Koalitionsverhandlungen in Ramat Gan. Quelle: Avshalom Sassoni/Flash90

Weitere News aus dem Heiligen Land