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Hebron: Eine Stadt zwischen Gesetzlosigkeit und Familienfehden

HEBRON, 09.08.2021 (DK) – Die Stadt Hebron gilt als ein Mikrokosmos des Nahostkonflikts – nirgendwo leben Juden und Palästinenser so nah und gleichzeitig so getrennt voneinander. Mitten in Hebron, nahe dem historischen Zentrum der Stadt, lebt eine kleine jüdische Gemeinschaft, umgeben von arabischen Nachbarschaften. Die Enklave von rund 850 Siedlern wird von über 500 Militärs Tag und Nacht bewacht. Selbst international ist die Stadt von gerade mal rund 216.000 Einwohnern als Krisenherd bekannt. Konflikte zwischen Siedlern, Palästinensern und der israelischen Armee  finden regelmäßig in den Medien Erwähnung. Doch wer Hebron näher kennen lernt, trifft auf eine Welt komplizierter Machtkonstellationen, Intrigen und seiner ganz eigenen Gesetze. 

Familienclans widersetzen sich Corona-Maßnahmen 

Überall auf der Welt leiden Kleinunternehmer und Geschäftsinhaber unter den harten staatlichen Auflagen zur Eindämmung der globalen Pandemie. In Märkten und Läden der palästinensischen Viertel Hebrons herrscht dagegen reger Verkehr. Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde zahlreiche Einschränkungen zum Handel von Waren erlassen hat, fürchten sich die Verkäufer hier nicht vor den Sicherheitskräften aus Ramallah. Sie stehen unter dem Schutz des Clan-Ältesten der Jabari Familie. Als der Premierminister der Autonomiebehörde, Mohammad Shtayyeh, die neuen Maßnahmen ankündigte, stattete der Familien-Anführer mit einer Reihe bewaffneter Männer den Ministern in Ramallah einen Besuch ab. Das Ziel der Unterredung wurde schnell erreicht: Die Geschäfte in Hebron blieben trotz der jüngsten Regelungen geöffnet. 

Soldat R., der als Infanterie-Kommandant in der Givati-Brigade gedient hat, beschreibt Hebron gegenüber Fokus Jerusalem als „komplizierter als andere Orte in den palästinensischen Gebieten“. Während das sogenannte Westjordanland in die Regionen A,B und C eingeteilt ist, gelten in Hebron die Kategorien H1 und H2. „Auf der einen Seite eines Gebäudes können andere Gesetze gelten als auf der anderen Seite und das macht es für die Truppen oft verwirrend“, erklärt R. Auch der Soldat macht die internen Machtkämpfe mit für die explosive Situation in der Stadt verantwortlich: „Es ist eine sehr konservative Enklave. Infolgedessen herrscht eine starke Stammesmentalität …  Clanführer haben oft viel zu sagen und sie können starken politischen Einfluss ausüben.“

Ein Staat im Staat: Hebron hat seine eigenen Gesetze 

Da die Regierung aus Ramallah sich im Hintergrund hält, kommt es nur selten zu offenen  Auseinandersetzungen zwischen den palästinensischen Sicherheitskräften und den Clan-Führern. Persönliche Fehden werden nach den Gesetzen der seit Jahrzehnten in der Stadt angesiedelten Familien ausgetragen. Als Anfang vergangenen Monats in Hebron plötzlich sämtliche Autos und Läden von Mitgliedern der Awiwi Familie, eines Erzfeindes der Jabaris, brannten, wurde nicht eingegriffen. Der Jabari-Clan und seine Verbündeten zeigten sich am helllichten Tag schwer bewaffnet auf Hebrons Straßen. Um eine völlige Eskalation des Konflikts zu vermeiden, verhängte der Bürgermeister eine abendliche Ausgangssperre. Doch Abdel Ra’ouf Alnatshe, ein weiterer Familienpatriarch, erklärte gegenüber der israelischen Tageszeitung Ynet: „Die einzige Kraft in Hebron, die die Macht hat, all dies zu stoppen, sind die Stammesältesten.“ In Israel und dem sogenannten Westjordanland wissen es die Meisten – in der Außenwelt bleibt es jedoch weitestgehend unbekannt – Hebron ist ein Staat im Staat. 

Bild: Palästinensische Jugendliche liefern sich Auseinandersetzung mit israelischen Sicherheitskräften. Quelle: Wisam Hashlamoun/Flash90

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