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Helden ohne Umhang (19): Noam Schalit – der Krieger hinter den Kulissen

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 15.10.2021 – Jeder in Israel kennt die Geschichte von Gilad Shalit, dem Soldaten der israelischen Armee (IDF), der 2006 von der Hamas in Gaza entführt und fünf Jahre später freigelassen wurde. Aber was ist mit seiner Familie, die 1942 Tage lang um das Leben ihres Sohnes bangte und hinter den Kulissen unaufhörlich um die Rückgabe ihres Sohnes kämpfte? 

„Zwei Soldaten wurden getötet und ein weiterer Soldat entführt. Er wurde anscheinend auf palästinensischen Boden gebracht. Es liegen keine Informationen vor, ob der Soldat, der aus dem Panzer gezogen wurde, am Leben ist oder tot.“ Es waren diese Sätze, die das Leben einer Familie und eines ganzen Landes für immer verändern sollten.

Horror-Szenario für die israelische Armee

Zehn Monate nach dem Abzug Israels aus Gaza versuchen die in der Region stationierten Soldaten, sich an die neuen Grenzen zu gewöhnen. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Selbstmordattentaten am Grenzzaun. Der Inlands-Geheimdienst erhält von Informanten die Nachricht, dass eine Gruppe von Hamas-Terroristen plane, den Zaun in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom zu durchbrechen. Der israelischen Armee wird bewusst, dass sie ihre Sicherheitskräfte verstärken muss. Eine Panzereinheit von den Golanhöhen, Kompanie 40 (Gilad Shalits Einheit), macht sich auf den Weg in den Süden. Zur gleichen Zeit verhört Israel zwei gefangen genommene Hamas-Mitglieder. Nach langen Stunden des Verhörs verraten sie ihren teuflischen Plan: Der Terrorist Mustafa M. eröffnet den Agenten, dass über einen unterirdischen Terrortunnel ein israelischer Soldat entführt werden soll. Doch für die Kompanie 40 kommen diese Erkenntnisse zu spät.

Der Offizier Yoav Belkes schickt an dem schicksalhaften Tag den Panzer von Gilad und seinen drei Kollegen an den Grenzzaun. Bis heute fühlt sich Belkes schuldig für das, was dann geschieht.

Die israelische Armee macht sich darauf gefasst, von Selbstmordattentätern am Grenzzaun überrascht zu werden. Auf die Idee, die Terroristen könnten durch einen unterirdischen Tunnel in israelisches Gebiet vordringen und die Soldaten von hinten überraschen, kommen sie nicht. Die Augen von Gilad Shalit und seinen Kameraden sind auf Gaza gerichtet.

Die Hamas entführt einen Soldaten

Es ist der 25. Juni 2006, 5:13 Uhr morgens. In der Dämmerung, kurz vor Sonnenaufgang, überfällt eine Gruppe von Hamas-Terroristen, die über Monate trainiert wurden, den Armeeposten. Durch einen heimlich gegrabenen Tunnel gelangen sie nach Israel, mehr als 300 Meter weit hinter dem Panzer. Die Terroristen töten die Offiziere Hannan Barak und Pawel Saluzker. Ein weiterer Panzersoldat, Roi Amiti, wird lebensgefährlich am Kopf verletzt. Den vierten Soldaten, Gilad Shalit, ziehen die Terroristen aus dem Panzer, schleifen den verletzten 19-Jährigen über den Stacheldrahtzaun und flüchten zurück in den Gazastreifen.

Der Kampf um Gilad beginnt

Was Gilads Familie an diesem Tag erleben muss, möchte sich kein Elternteil vorstellen. Das eigene Kind in den Händen grausamer Terroristen ist der Albtraum jeder israelischen Familie. Nach dem schweren Schock beginnt Familie Shalit, mit Vater Noam an der Front, den schweren Kampf, der von einer breiten Medienpräsenz begleitet wird. Naom Shalit, der auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, reist Jahre lang immer wieder nach Frankreich und gibt zahlreiche Interviews. Er trifft französische Politiker und schafft es, die Unterstützung des damaligen Staatspräsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy, für seine Sache zu gewinnen und über das französische Staatsoberhaupt ein Lebenszeichen seines Sohnes zu erhalten.

Die Protestgruppe „Gilad’s Army of Friends“ wird gegründet. Die Gruppe organisiert wöchentliche Demonstrationen, Aktivitäten an großen Kreuzungen und Internetaktivitäten, an denen Hunderttausende Israelis teilnehmen. 

Gilad Shalit-Anhänger, angeführt von Noam Shalit, am Grenzübergang Kerem Shalom. Sie behindern die Durchfahrt von Lastwagen mit Gas und Kraftstoff und kleben Proteststicker in Arabisch auf die Kartons, die die Befreiung von Gilad fordern – 23. Februar 2010. Foto: Edi Israel / Flash90 

Im Jahr 2010 erreicht Noam die Unterstützung des Europäischen Parlaments. Er trifft sich persönlich mit Jerzi Bozek, dem Präsidenten des EU-Parlaments. Der verspricht ihm seine Hilfe bei der Befreiung seines Sohnes. Später trifft sich auch die EU-Außenministerin Catherine Ashton mit Gilads Eltern und fordert im Anschluss die sofortige Freilassung der israelischen Geisel.

Noam Schalit kämpft ohne Unterlass

Ende Juni 2010 organisieren Gilad Shalits Eltern einen Solidaritätsmarsch von ihrem Zuhause in Mitzpe Hila in Westgaliläa zum Haus des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Tausende Israelis begleiten das Paar auf dem langen Weg in die Hauptstadt. Zur gleichen Zeit werden Tausende von gelben Bändern im ganzen Land verteilt, die an Fahrzeugen befestigt werden, um Solidarität mit dem gefangenen Gilad und seiner Familie zu zeigen. Nach 12 Tagen und einem Marsch von mehr als 180 Kilometern erreichen die Eltern ihr Ziel und errichten ein Protestzelt vor der Residenz des Premierministers in Jerusalem. Das Paar verkündet, dort so lange zu bleiben, bis ihr Sohn wieder daheim ist.

Der Gilad-Marsch: Tausende begleiteten die Familie trotz unglaublicher Sommerhitze. Einige von ihnen nur für einen Tag oder ein paar Kilometer. Immer an der Spitze: Noam Shalit. Foto: Tomer Neuberg/Flash90

Am 8. September 2011 spricht Noam in New York vor den Vereinten Nationen und bittet um Beistand. Er trifft sich mit westlichen Diplomaten, scheut kein Interview mit Reportern und Journalisten aus allen Ländern der Welt, selbst aus dem Libanon, Pakistan und anderen arabischen und muslimischen Ländern.

Immer wieder verlaufen die Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch im Sand. Wäre nicht Noam Shalit gewesen, der jedes Mittel nutzt, um die Gespräche wieder ins Rollen zu bringen, wäre Gilad vielleicht bis heute nicht zurück in der Freiheit.

Im Oktober 2011, fünf Jahre und vier Monate nachdem der Entführung, wird eine Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas getroffen. Die israelische Regierung genehmigt einen Gefangenenaustausch. Zu diesem Zeitpunkt halten sich die Eltern des Soldaten bereits ein Jahr in ihrem Zelt vor der Residenz Netanjahus auf. Für die israelische Geisel sollen 1.027 palästinensische und arabisch-israelische Gefangene freigelassen werden. Unter den Gefangenen befinden sich Hunderte von Terroristen, die wegen der Durchführung und Planung von Terroranschlägen, einschließlich der kaltblütigen Ermordung von Israelis, zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Der Deal wird von deutschen und ägyptischen Verbindungsmännern vermittelt und am 11. Oktober 2011 in Ägypten unterzeichnet. Eine Woche später kommt Gilad Shalit frei.

Wir bringen Gilad nach Hause“

„Wir befinden uns im Landeanflug. Wir bringen Gilad nach Hause.“ Diese Worte ertönen live aus dem Cockpit des Armeehelikopters, der den Entführten zurück bringt. Ein ganzes Land verfolgt aufgeregt die Freilassung des jungen Soldaten. Mit der Veröffentlichung des Fotos des bleichen, schwachen Soldaten mit dem leeren und ängstlichen Blick, der vor Premierminister Benjamin Netanjahu salutiert, fällt die schwere Last und Angst, die Gilads Familie 1942 Tage mit sich herum schleppen musste, von ihnen ab. Netanjahu umarmt ihren Sohn mit den Worten: „Schalom Gilad, herzlich willkommen zurück in Israel. Wie gut, dass du nach Hause gekommen bist!“ Er begleitet den jungen Soldaten zu seinem Vater. Nach fünf Jahren und vier Monaten ist der zermürbende Krieg um Gilad für seine Familie zu Ende. Doch der Krieg endete nicht für alle Familienmitglieder. 

Noam Shalit ist heute ein gebrochener Kämpfer.

Die schweren Zeiten haben tiefe Spuren bei Gilads Eltern hinterlassen. Besonders sein Vater Noam leidet. Er kämpft gegen den Krebs. 2015, vier Jahre nach Gilads Freilassung, wurde bei ihm Leukämie diagnostiziert. Nach einer Rückenmarksspende leidet Noam heute an einer sehr schweren Autoimmun-Krankheit, die seinem Körper schwer zusetzt. Der starke Vater, der bei der „Gilad Ralley“ 180 Kilometer zu Fuß lief, kann sich zehn Jahre später kaum wenige Minuten auf den Beinen halten. Selbst das Atmen fällt ihm schwer. Er weiß, dass fünfeinhalb traumatische Jahre seiner Gesundheit schwer zugesetzt haben. Wissenschaftlich kann er es jedoch nicht belegen.

Nach dem zermürbenden Kampf um seinen Sohn fand ein weiterer Krieg innerhalb der israelischen Bevölkerung statt. In den Jahren danach schob man Noam Shalit die Schuld für den Tod von zehn Israelis in die Schuhe. Die Mörder waren Terroristen, die beim Gefangenenaustausch mit Gilad auf freien Fuß gesetzt worden waren. In Noam Shalit fand man das perfekte Opfer. Die bösen Stimmen schlugen bald in Rufmord um. Der Vater des „Sohnes von uns allen“, wie Gilad in Israel zur Zeit seiner Gefangenschaft genannt wurde, wurde nun zum Sündenbock. Das Verständnis für die Eltern, die ihren Sohn mit allen Mitteln aus der Gefangenschaft einer weltweit bekannten Terrororganisation befreien wollten, schlug in Hass gegen den zurückhaltenden Vater um. Doch musste er nicht nur mit den bösen Anschuldigungen des Volkes kämpfen, selbst israelische Politiker machten keinen Halt.

Der Vater wird zum Sündenbock

Böse Beschuldigungen erhebt der ehemalige Premierminister Ehud Olmert. In einem Interview im Jahr 2016 wettert er: „Es wurden bereits zwei Soldaten getötet und die Terroristen befanden sich auf dem Rückzug, als plötzlich ein Soldat aus dem Panzer schaut und nach den Terroristen ruft. Ich weiß nicht einmal, ob man es Entführung nennen kann oder er sich selbst ausgehändigt hat. Aber was dort geschehen war, ist absurd.“ Die Worte des ehemaligen Regierungschefs, der später wegen Untreue und Korruption für 16 Monate im Gefängnis saß, belasten den kranken Vater. „Bis Du nicht in einer solchen Situation bist, solltest Du niemanden richten. Und schon gar nicht Olmert, der im Leben keine Kugeln neben seinen Ohren pfeifen gehört hat“, erklärt Noam kurz und bestimmt. 

Schon 2013 hat der bekannte israelische Journalist Ben Kaspit einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Reaktion von Gilad während des Angriffs der Terroristen schwer kritisiert: „Gilad hat sich den Terroristen ausgeliefert, ohne eine einzige Kugel abzuschießen. Er hätte den ganzen Akt recht einfach beenden können.“

Noam und Aviva Shalit bekommen in ihrem Protestzelt Besuch von Oberrabbiner Yona Metzger (2011). Foto: Kobi Gideon/Flash90

Noam Shalit versucht bis heute, die Anschuldigungen gegen seinen Sohn zu entkräften. Hätte Gilad den Panzer bewaffnet verlassen, hätten ihn die Terroristen, die deutlich in der Überzahl waren, sofort getötet. Gilad diente zum Zeitpunkt des Terroranschlages weniger als ein Jahr in der israelischen Armee. Der junge Soldat hatte nur einen einfachen Basiskurs absolviert. Dennoch erwartete man von ihm, den Kampf gegen die Terroristen alleine aufzunehmen. Der Vater betitelt diese Option als Selbstmord und fügt hinzu: „Natürlich wäre es für die Politiker einfacher gewesen, wäre Gilad in einem Sarg zurückgekommen, bedeckt mit der israelischen Fahne. Aber zu ihrem Bedauern kam er nicht im Sarg zurück.“ 

Die Entführung der drei Teenager

Einer der Terroristen, der bei der Freilassung Gilad Shalits frei kam, war Muhammad Ali Al K. Er finanzierte im Jahr 2014 die Entführung und Tötung von drei religiösen Teenagern in Gush Etzion. Vier der Terroristen des „Shalit-Deals“ waren in den vergangenen Jahren an Morden und Attentaten auf israelische Zivilisten beteiligt. Fast ein Dutzend Tote musste Israel durch die Freilassung der als gefährlich geltenden Terroristen hinnehmen.

Die wiederkehrende Frage, ob der Preis, den Israel zahlte, nicht zu hoch war für die Freilassung eines einzelnen Soldaten, und die Auswirkungen des Shalit-Deals belasten den kranken Noam sehr. Doch er behauptet, dass es nicht an Terroristen der Hamas oder des islamischen Dschihad fehle, die Terroranschläge gegen zivile Israelis und Soldaten verüben. „Wenn es nicht diese Terroristen sind, dann stehen andere auf und töten“, erklärt Noam in den israelischen Nachrichten.

Vor dem Gefangenenaustausch waren Stimmen gegen die Freilassung der 1027 Straftäter kaum zu hören. Das Volk unterstütze die Operation und wollte den Soldaten, der zum Schutz des Landes an ihre Grenzen geschickt worden war, gesund zurück zu Hause sehen. Doch heute sind die Stimmen gegen Familie Shalit, vor allem gegen Noam, laut. Hasskommentaren und Schuldzuweisungen war Noam in den vergangenen 16 Jahren fast ständig ausgesetzt. Es sieht so aus, als ob die Sympathie des Volkes eine Wendung erfahren hat. Von der absoluten Unterstützung zur Freilassung des „Kindes von uns allen“ wechselten die Emotionen zu Wut und Zorn. Die Freilassung der 1027 Kriminellen habe Israel geschwächt, heißt es nun.

1027 für einen?

Tatsächlich hatte die Hamas aus früheren Gefangenenaustauschen mit Israel gelernt. Nachdem der jüdische Staat sich von dem Vorsatz, keinen Terroristen mit Blut an den Händen freizulassen, verabschiedet hat, war es abzusehen, dass die Hamas einen sehr hohen Preis für die Freilassung von Gilad Shalit verlangen würde. Die Bilder des Gefangenenaustausches mit der Hisbollah am 16. Juli 2008 haben sich nicht nur in die Köpfe des israelischen Volkes gebrannt, sondern auch in die der Hamas. Israel tauschte damals mit dem Libanon fünf lebende Terroristen, darunter der brutale Kindermörder Samir Kuntar, gegen die Särge der Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev aus.

Israel beweinte seine Toten, die Hisbollah feiert ihre Mörder.

Vater Noam war unter den Trauergästen bei den Beerdigungen der beiden Soldaten. Karnit Goldwasser, die Ehefrau des toten Ehud Goldwasser, wurde zur Verbündeten der Familie Shalit und kämpfte damals dafür, dass Gilad nicht auch im Sarg zurück nach Israel kommt. Noam Shalit erklärt: „Wir haben nicht aufgelistet, wer freigelassen werden soll und wer nicht. Wir haben für seine Freilassung gekämpft. Wir haben nicht gesagt, wie die Regierung ihn freibekommen soll.“ Die Hamas sei auf kein anderes Angebot eingegangen. Das Versagen liege auf der Seite der Regierung, die keine Alternative gefunden habe. „Die Abschreckung Israels konnte nicht auf dem schwachen Rücken von Gilad aufgebaut werden. Ich bin sein Vater und mein Sohn ist daheim.“

Vater und Sohn wieder vereint: Noam begleitet seinen freigelassenen Sohn, die Polizei bringt sie nach Hause. Foto: Israeli Police Unit/Flash90

Gilad schaut opimistisch in die Zukunft

Heute ist der 35-Jährige Gilad Shalit mit Nizan Schabbat verheiratet, arbeitet als Bankkaufmann in der israelischen Bank „Discount“ und lebt in Herzliya. Die Vergangenheit versucht er zurückzulassen und zuversichtlich in die Zukunft zu sehen. Er befindet sich zwar bis heute in psychologischer Behandlung, doch ist er optimistisch. Er hat den Kampf gegen die Terroristen gewonnen. Doch eine Person hat die Jahre nicht unbeschadet überstanden: Naom Shalit, der Krieger hinter den Kulissen. Er kämpfte mit aller Kraft für die Rückkehr seines Sohnes und bezahlte einen hohen Preis. Doch würde er für seinen geliebten Sohn das gleiche Opfer wieder bringen. Noam Shalit ruhte nicht, bis er seinen verlorenen Sohn wieder in die Arme schließen konnte. Für uns ist er ein Held und ein Symbol der Vaterliebe.

Titelbild: Noam Shalit im Protestzelt vor der Residenz des Premierministers. Er kämpfte um seinen Sohn und gewann. Doch der Preis für seinen Sieg ist hoch. Foto: Kobi Gideon/Flash90

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