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Helden ohne Umhang (25) – Itamar Glazer: „Etwas Süßes für die Seele“

von Nadine Haim Gani

TEL AVIV, 10.12.2021 – Vereinsamung ist für alte Menschen fast die schlimmste Krankheit. Gegen diese Art der Beschwerden gibt es keine Medizin. Oder doch? Itamar Glazer, ein junger Mann aus Tel Aviv, hat es sich zum Ziel gesetzt, mit seinem Projekt die Einsamkeit in der Gesellschaft zu bekämpfen. Ganz nach dem Motto „Liebe geht durch den Magen“ verteilt er seine Kuchen an ältere Menschen, Bedürftige, Personen mit speziellen Bedürfnissen und besonders an Holocaust-Überlebende. Es ist die zuckersüße Geschichte eines Projektes namens „Süßes für die Seele“: Kuchen und Gesellschaft für alle, die es brauchen.
Ofen vorheizen und von ganzem Herzen backen
Itamar Glaser, ein 27-Jähriger aus Tel Aviv, ist Maschinenbaustudent und Hobbybäcker. Er wurde in Ma’alot Tarshiha im Norden Israels in einer religiösen Familie geboren. Sein Vater stammt ursprünglich aus England, seine Mutter kam in Israel zur Welt. Itamar ist der fünfte von insgesamt sechs Brüdern.
Er wuchs in einem Haushalt auf, in dem Kuchen und Gebäck immer greifbar waren. Schon im Alter von vier Jahren schickte seine Mutter den kleinen Jungen zu Verwandten, um sie mit einem Kuchen für den Schabbat oder einer feierlichen Geburtstagstorte zu überraschen. Das Kind lernte: Kuchen, Geben und Nächstenliebe sind eng miteinander verbunden.
Vergessener Geburtstag
Im Alter von neun Jahren vergaß Itamars Familie seinen Geburtstag. Der kleine Junge war sich sicher, dass es sich um eine Überraschungsfeier handeln muss. Doch als er von der Schule heimkam, erkannte er schmerzlich, dass er wirklich vergessen worden war. Er beschloss daraufhin, seinen Geburtstag selbst zu feiern.
Das Geburtstagskind griff zu einem seiner Kinderkochbücher und backte einen leckeren und saftigen Schokoladenkuchen. Im Anschluss ging er in den nahe liegenden Supermarkt und kaufte sich eine große Packung Luftballons und Süßigkeiten. Mit seinen Puppen und Teddybären im Kreis sitzend, zündete er die Kerzen an seinem selbst gebackenen Kuchen an. An diesem Tag verstand der Junge, dass schon eine kleine, süße Aufmerksamkeit Traurigkeit im Leben verbannen und ein betrübtes Herz erfreuen kann.
Die Liebe zum Backen bekam Itamar schon früh von seiner Mutter vermittelt. Sie pflegte zu sagen, dass man mit dem Herzen backt und nicht mit den Händen. In Itamars Familie bezog sich das Backen und Kochen im Allgemeinen auf die Gastfreundschaft. Die Wohnungstür der Großfamilie war immer offen für ihre Nächsten und ihr Umfeld. Dabei haben es die Backwaren seiner Mutter dem Jungen besonders angetan. Kuchen sind für ihn eine Welt der Kreativität und Fantasie. In jedem Kuchen konnte sich der kleine Bäcker jedes Mal neu erfinden. Itamar erzählt, dass er jeden Schabbat den gleichen Kuchen backen kann, doch jedes Mal, wenn der Kuchen aus dem Backofen gezogen wird, ist es ein neuer magischer Moment für den faszinierten Hobbybäcker.
Von klein auf liebte Itamar die Küche. Bereits mit 13 Jahren kochte der Teenager ein üppiges Schabbatessen für seine ganze Familie. Das Backen entdeckte er für sich am Ende seines Schulabschlusses. Mit der Zeit gingen ihm die verschiedenen Kuchenrezepte immer leichter von der Hand.
Seinen Schulabschluss machte Itamar in der südisraelischen Wüstenstadt Beersheva. Traurigkeit oder Einsamkeit tolerierte der fröhliche Student in seiner Umgebung niemals. Die anstrengende Studentenatmosphäre führte dazu, dass Itamar seine Freunde stets mit einem leckern Kuchen, süssem Gebäck oder schmackhaftem Schabbatbrot, Challot genannt, überraschte. Ein Stückchen seiner beliebten Kuchen, kombiniert mit einem warmherzigem Gespräch, verbesserten jedes Mal aufs Neue die Stimmung seiner Mitschüler.
Umzug nach Tel Aviv
In Beerscheva war der Student sehr beliebt und erfreute sich eines großen Freundeskreises. Als Itamar in die große Mittelmeer-Metropole Tel Aviv zog, fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben einsam. Ein Gefühl, das der Hobbybäcker bis dato nicht kannte. Er wohnte in einer kleinen WG, in der jeder sein eigenes Leben vor sich hinlebte. Ein fröhlicher Gruß, ein freundliches Schalom, kam seinen Mitbewohnern kaum über die Lippen.
Itamar vermisste das Backen, doch fand sich in seinem Umkreis niemand, mit dem er ein Kilo Mehl teilen könnte. Wegschmeißen wollte der junge Mann es nicht. Deshalb verzichtete Itamar in der ersten Zeit auf sein geliebtes Hobby.

Auch zu Chanukka ruht unser Held nicht und besucht mit einer Extraportion „Liebe“ bepackt die Holocaust-Überlebende Sarah. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer


Eines Tages erzählte ihm eine gute Freundin, dass ihre Mutter schwer an Krebs erkrankt war. Itamar zögerte keine Minute und begab sich umgehend in sein Lieblingsterritorium, die Küche. Er backte zwei seiner begehrten Käsekuchen und übergab sie der kranken Mama. Er legte der Köstlichkeit eine kleine Notiz bei: „Ein weiser Mann namens Tommy Torch sagte einmal, dass 90 Prozent der Probleme der Welt mit einem guten Käsekuchen gelöst werden könnte. In großer Hoffnung auf bessere Tage.“ Das süße Geschenk in schweren Zeiten ermutigte die kranke Frau. Ihr glücklicher Gesichtsausdruck und das dankbare Lächeln legten den Grundstein für Itamars Projekt.
Menschen brauchen nur eine kleine Geste
Itamar kam der Gedanke, mehr Menschen über seine köstlichen Kuchen zu erreichen. Zum einen war sein Ziel, die Einsamkeit alter Menschen in der Gesellschaft zu bekämpfen. Zum anderen wollte er bedürftigen und kranken Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Itamar begann zu backen und veröffentlichte einen kurzen, belanglosen Facebook-Post mit der Frage, ob sich jemand über ein Stück Kuchen und ein freundliches Gespräch freuen würde. Die Resonanz war immens! Itamar war überwältigt. Sein trivialer Post geriet außer Kontrolle. Statt erwarteter ein bis zwei Adressen wurde Itamars Anfrage mit über 80 Adressen überflutet! Alle würden sich über einen süßen Besuch von Itamar unglaublich freuen. Der junge Bäcker hätte es sich nicht träumen lassen, dass so viele vereinsamte Menschen in seinem Umfeld lebten.

Itamar sagt selbst: „Meine Kuchen müssen nicht perfekt für Instagram sein, sondern perfekt für das Herz!“. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer


Zwei Monate lang stand Itamar jeden Donnerstag nach der Arbeit stundenlang in der kleinen Küche in seinem Tel Aviver Apartment und backte Dutzende seiner vorzüglichen Kuchen. Freitagmorgens stieg er auf seinen Elektroscooter und begann mit der Verteilung an die Adressen aus seinem Facebookpost. Mit seinen Kuchen erreichte der Hobbybäcker nicht nur ältere Menschen und Holocaust-Überlebende, sondern auch einsame Soldaten und Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Itamar wurde schnell klar, dass die meisten Menschen, die er besuchte, ein nettes und freundliches Gespräch mehr brauchten als ein Stück Zopf. Statt der geplanten zwei Stunden für die Verteilung seiner Kuchen brauchte Itamar jedes Mal fast fünf. Er nahm sich bei jedem seiner Besuche mindestens eine halbe Stunde Zeit, um mit dem Empfänger ein nettes und freundliches Gespräch zu führen. Er verstand, dass er allein nicht im Stande war, alle bedürftigen Menschen zu erreichen. Um etwas zu verändern, benötigte der junge Mann Hilfe. Itamar rief das Projekt „Süßes für die Seele“ ins Leben.
Die Hobbybäcker-Armee wird gegründet
Zwei Monate nach seinem ersten Facebook-Aufruf schrieb der Hobbybäcker einen weiteren Beitrag. Diesmal fragte er sein Umfeld nach Hilfe und bat darum, sich ihm anzuschließen. Itamar erreichte alleine in Tel Aviv sehr schnell über 250 backfreudige Freiwillige, und schon bald expandierte das Projekt bis nach Ramat Gan, Beersheva und 20 weitere israelische Städte. Heute verfügt „Sweets for the Soul“ landesweit über 25.000 Bäcker. Einige davon backen regelmäßig, andere nur von Zeit zu Zeit. Aber eines verbindet sie alle: der Wunsch zu teilen und den Mitmenschen etwas Gutes zu tun. Inzwischen arbeitet das Projekt sogar mit bekannten Hightech-Unternehmen wie Wykes und GSI zusammen. Die Firmen senden ihre eigenen Mitarbeiter zum Verteilen der Kuchen. „Sweet for the Soul“ hat es geschafft, im vergangenen Jahr Zehntausende von Kuchen in ganz Israel zu verteilen. Doch für Itamar ist das noch längst nicht genug.
Einsamkeit ist die schlimmste Krankheit
Itamar Glazer erzählt, dass dennoch ab und an Chaos herrscht. Zu schnell ist das kleine Kuchen-Projekt gewachsen. Zu keinem Zeitpunkt hatte er sich ausgemalt, Tausende von Freiwilligen organisieren zu müssen. Im Laufe der Zeit wurde dem jungen Mann klar, dass er das Projekt nicht alleine koordinieren kann. Mit seinen Freiwilligen ernannten sie sogenannte Zonen-Manager in den verschiedenen Gemeinden, um Herr der Lage zu werden.

Itamar mit seiner Hobbybäcker-Armee. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Einsamkeit ihrer Mitmenschen. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer


Jede Stadt verfügt über eine Whatsapp-Gruppe, in der Tabellen eingebettet sind. Die Freiwilligen treten einer der Gruppen bei, hinterlassen Namen und Telefonnummer und können über Google-Docs einsehen, wo in ihrer Nachbarschaft eine ältere Person lebt, die gerne besucht werden möchte. Der Kuchen ist für die meisten nur ein Vorwand. Gesucht wird ein nettes und freundliches Gespräch.
Die Anfrage des Freiwilligen wird geprüft und ein paar Wochen später sendet der Regionalleiter eine ausführliche Nachricht mit Details und Adresse der Person, die besucht wird. Der freiwillige Bäcker tritt mit ihr in Kontakt, koordiniert die Ankunft, bäckt ein Küchlein und geht ihn besuchen. Ganz einfach.
In der Whatsapp Gruppe teilen die Freiwilligen später Fotos ihrer Backwaren sowie besondere Erlebnisse. Sonntags überprüft der Regional-Koordinator persönlich bei dem Freiwilligen, wie der Besuch verlief und ob alles reibungslos verlaufen ist.
Die Datenbank von „Sweets for the Soul“ verfügt derzeit über mehr als 5000 Adressen älterer, einsamer Israelis. Dutzende israelischer Gemeinden und Hunderte von Menschen traten an die verschiedenen Regionalleiter des Projekts heran und baten um einen Besuch bei ihren Eltern. Sogar das israelische Ministerium für soziale Gleichberechtigung und verschiedene Politiker zeigten größtes Interesse an der Hobbybäcker-Armee. Doch nicht immer reicht es den Freiwilligen zeitlich, jeden der Bedürftigen zu besuchen. Dann greifen die Mitglieder zum Telefon und wünschen ihren Schützlingen einen gesegneten und friedvollen Schabbat. Ein einfaches Telefonat mit großer Wirkung. Der Gedanke „Wir haben Dich nicht vergessen und denken an Dich“ Ist wichtiger als man glaubt. Den Kuchen gibt es dann eine Woche später.
Itamar schickt seine Kuchen an jede Person. Egal welchen Glaubens, welcher Lebenseinstellung und welcher Hintergründe. Die schmackhaften Backwaren gehen an einsame Soldaten, an Wohngruppen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, in geschützte Unterkünfte für psychisch Kranke, in die vier Wände von posttraumatisierten Kriegsveteranen, in Unterkünfte der LGBT-Gemeinschaft und selbst in die Residenz von misshandelten Ehefrauen und Frauen, die aus der Prostitution gerettet wurden. Jedes Mal ist der Kuchen nur eine kleine Ausrede. Bei den Besuchen geht es um das Zusammensein, das Gespräch und das offene Ohr. Das Stückchen Kuchen ist nur das i-Tüpfelchen. Der Seelenbalsam für die Menschen ist der Besuch, die Unterhaltung und das Interesse an seinem Gegenüber.

Auf dem Weg zu einer neuen Mission mit ausgesprochen süßem Proviant. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer


Der Projektgründer unterstreicht, dass er kein Interesse daran habe, die finanzielle Situation der Person zu überprüfen, die sich einen Besuch wünscht. „Ich bringe meinen Kuchen zu jemandem, der in einem Luxusturm in Tel Aviv wohnt, genauso wie jemandem, der in einem Karton in einem kaputten Haus lebt. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis – die Einsamkeit im 27. Stock ist genau die gleiche Einsamkeit wie die in einer heruntergekommenen Wohnung. Nur: Die Person im 27. Stock schämt sich mehr, es zuzugeben.“
Itamar erzählt von einem seiner Treffen: „Kürzlich rief mich eine ältere Frau an und fragte, ob wir sie besuchen könnten. Sie fing an zu weinen und legte uns offen, dass sie sich sehr schämt. Sie habe ihr ganzes Leben lang gearbeitet und möchte kein Geld. Sie wünscht sich nur ein bisschen Gesellschaft.“ Itamar erklärte ihr, dass es keine Schande sei und er nicht das Gefühl habe, ihr etwas zu spenden. Er möchte sich nur mit ihr treffen und etwas Gutes tun.
Itamar Glazer kämpft gegen die Einsamkeit und den Eigensinn in unserer Gesellschaft. Seine freie Zeit verbringt er damit, den Bedürftigen und einsamen Menschen ein wenig Liebe, Aufmerksamkeit und ein offenes Ohr zu schenken. Itamar ist unser Held – statt Umhang trägt er Backofen-Handschuhe!

Itamar und seine Leah. Die Holocaust-Überlebende ist eine seiner Stammkunden. Sie sagt: „Es tut meiner Seele gut. Ich lebe hier in meinen vier Wänden und habe niemanden. Aufmerksamkeit ist für mich sehr wichtig.“ Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer


Titelbild: Itamar Glazer mit seinem Elektroscooter und einem seiner köstlichen Kuchen. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Itamar Glazer

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