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Ein Leben unter der Armutsgrenze: Holocaust-Überlebender aus Jerusalem lebt in schockierendem Elend

JERUSALEM, 09.01.2022 (NH) – Siebenundsiebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg leben etwa 20.000 Holocaustüberlebende von wenig oder gar keiner staatlichen Unterstützung. Viele von ihnen leben in Armut und kämpfen um Anerkennung ihres Status als Überlebende. Fassungslose Sozialarbeiter in Jerusalem trafen auf schreckliche Zustände in der heruntergekommenen Wohnung eines 91-jährigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Besorgte Nachbarn meldeten den Fall dem Sozialamt.

Ein Leben im Elend

Yaakov*, ein 91-jähriger Holocaust Überlebender, dessen gesamte Familie im Konzentrationslager in Auschwitz umgebracht wurde, ist alleine nach Israel eingewandert. Um Hilfe bat der freundliche alte Mann nie. Aus Scham hielt Yaakov lange seine Lebensumstände vor seinem Umfeld und Nachbarn geheim. Schließlich riefen seine Nachbarn das Jerusalemer Sozialamt zur Hilfe. Den Sozialarbeitern bot sich ein grausames Bild der Armut: Der alte Mann lebte in einer muffigen, verschimmelten Wohnung ohne fließend Wasser. Die Toilette war verstopft, elektrische Leitungen lagen gefährlich offen. Die kleinen Fenster der winzigen Wohnung waren zerbrochen.

Die Sozialarbeiter informierten die Behörden und die gemeinnützige Organisation “Tenufa Bakehila”. Der Verein kümmert sich um Menschen in schwierigen Wohnsituationen im ganzen Land. Israel Keenan, Leiter der Organisation in Jerusalem, sagte, dass er noch nie zuvor solches Elend in Jerusalem gesehen habe. “Ich habe schon einige baufällige Wohnungen besucht, aber nichts hat mich auf das vorbereitet, was mich diesmal erwartet hat”, erklärt Keenan. “Elend, Verzweiflung, der Geruch von Verwesung und klirrende Kälte in jeder Ecke.” Die Organisation versprach, die Wohnung des Holocaustüberlebenden zu sanieren.

Die Wohnung des 91-jährigen Holocaustüberlebenden. Das Elend zeigt sich in jeder Ecke seines Zuhauses. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von תנופה בקהילה-Tenufa Bakehila

Traurige Statistiken

Der Gründer und Direktor des Vereins, Gabi Nachmani, erklärte, dass neben Yaakov mehr als hundert weitere Holocaust-Überlebende im vergangenen Jahr die Dienste der Organisation in Anspruch genommen haben. Er unterstrich, dass es die Pflicht der Regierung und der gesamten israelischen Gesellschaft sei, dass Holocaust-Überlebende ihre letzten Jahre in Würde verbringen können. Doch zeichnet sich ein Bild staatlichen Versagens ab.

Heute leben etwa 174.500 Holocaustüberlebende in Israel. Umgerechnet jeder vierte Überlebende, in etwa 45.000, leben unter der Armutsgrenze. Sie leben von einer monatlichen Hilfe von 2.200 Schekel (ca. 620 Euro) die je nach Behinderungsgrad steigt. Gesetzliche Veränderungen, wie Zahlungen für medizinische Kosten und psychologischen Behandlungen helfen vielen Überlebenden, dennoch reichen sie nicht aus. Etwa 20.000 werden vom Staat nicht anerkannt oder nur teilweise unterstützt. Im Durchschnitt sterben jedes Jahr 14.200 – fast 40 Überlebende am Tag.

Die Handwerker der gemeinnützigen Organisation werden die Renovierungsarbeiten der Wohnung zu übernehmen. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von תנופה בקהילה-Tenufa Bakehila

“Wir haben den Holocaust überlebt, aber nicht den Hunger und die Einsamkeit”

Den Hunger, die Kälte und die Angst ums Überleben ließen die jüdischen Überlebenden nach dem Holocaust nicht zurück. Die Traumata der dunklen Zeit dominieren bis heute das Leben der letzten Zeitzeugen. Viele Überlebende führen bis heute einen harten Kampf um gesetzliche Unterstützung zu erhalten. Die Komplexität israelischer Rechtslagen schaffen Ungleichheiten bei den Leistungen für die Überlebenden.

“Liskor velo lishkoach” zu deutsch “Gedenken und nicht vergessen”, ist eine der Hauptaussagen um den Holocaust, doch scheint die Regierung die Überlebenden oftmals wirtschaftlich und sozial vergessen zu haben.

*Namen sind aus Gründen der Privatsphäre verändert worden.

Titelbild: Mehr als ein Viertel der israelischen Holocaustüberlebenden lebt unter der Armutsgrenze. Foto: Edi Israel/Flash90

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