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Helden ohne Umhang (38) – Daniel Wolfson: Vom Rollstuhl auf den Mount Everest – Die Rechtsanwältin, die den höchsten Gipfel der Welt bezwang

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 15.04.2022 – Daniel Wolfson schreibt Geschichte für das kleine jüdische Land. Sie ist die erste Israelin auf dem Mount Everest. Den 8.848 Meter hohen Berg erklimmt die junge Frau nach einem schweren Skiunfall. Damals waren sich die bulgarischen Ärzte nicht einmal sicher, ob sie jemals wieder alleine laufen könnte. Dies isr unglaubliche Geschichte einer israelischen Rechtsanwältin, die gegen alle Vorhersagen den höchsten Berg der Welt bezwang.

Daniel wanderte im Alter von zehn Jahren aus der russischen Hauptstadt Moskau mit ihrer Familie in Israel ein. Damals ließen sich die Neueinwanderer in Tel Aviv nieder. Obwohl die junge Frau nicht in Israel geboren wurde, sieht sie sich als hundertprozentige Israelin. Heute ist die 43-Jährige selbst Mutter eines 22-jährigen Jungen.

Schwerer Skiunfall 

Im Jahr 2011 reiste Daniel mit ihrem Sohn für einen winterlichen Skiurlaub nach Bulgarien. Der Trip sollte für Daniel zu einer wahren Horrorreise mutieren. Sie stürzte auf dem Weg zur Skipiste aus der fünf Meter hohen Seilbahn und schlug auf dem eisigen Schnee auf. Bei dem freien Fall wurde ihr rechtes Bein zerschmettert. Ihr Oberschenkelknochen war kompliziert gebrochen.

Daniel wurde zu einer Notoperation in ein bulgarisches Krankenhaus überführt. Mit Dutzenden Metallschrauben und einem Platinstab wurde ihr Bein wieder zusammengeflickt. Nach zehn Tagen in einem Krankenhaus in der Fremde folgte der komplizierte Transfer nach Israel. Eine sehr lange Rehabilitation begann für die junge Mutter. Die behandelten Ärzte konnten ihr damals nicht versprechen, ob sie jemals wieder im Stande sein würde, alleine laufen zu können.

Doch die tapfere Kämpferin ließ sich nicht als behindert abstempeln und kämpfte sich zurück zu ihrer Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich langsam der Traum, nicht nur eigenständig laufen zu können, sonder sogar den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest, zu besteigen. Der schon fast utopische Wunsch sollte das schwerste Ziel der erfolgreichen Rechtsanwältin werden.

Langsame Heilung und erster Wettkampf

Erst lange sechs Monate später fing das Bein an, langsam zu heilen. Rehabilitation und Physiotherapie sollten das Leben von Daniel in den nächsten Jahren dominieren. Ein Gefühl des persönlichen Versagens mischte sich in ihren Kampf und drohte die sportliche Frau zu demoralisieren. Nach mehr als zweieinhalb Jahren schmerzhafter Reha-Einheiten konnte Daniel wieder zu Fuß gehen. Doch das Laufen fiel ihr sehr schwer. Sie humpelte und schämte sich vor ihrem Umfeld für ihre Behinderung.

Drei Jahre nach dem schweren Skiunfall schrieb sich Daniel für den Nachtmarathon in der Küstenmetropole Tel Aviv ein. Es dauerte zwar mehr als drei Stunden, bis sie über die Zielgerade humpelte, doch die Medaille, die man ihr am Ende des Wettkampfes übergab, stärkte das Selbstbewusstsein der Rechtsanwältin ungemeinen.

Nach dem mehr oder weniger erfolgreichem Marathon suchte Daniel nach einer passenden Laufgruppe in ihrer Umgebung. Sie schrieb sich in einer Beginner-Gruppe ein und lernte ihren zukünftigen Trainer Daniel Keren kennen. Keren war zu diesem Zeitpunkt der vierte israelische Bergsteiger, der im Jahr 2009 den Gipfel des Mount Everest erklommen hatte. Der erfahrene Alpinist gab nicht nur Unterrichtseinheiten im Laufen, sondern organisierte auch Bergsteiger-Expeditionen auf der ganzen Welt. Die motivierte Daniel fing Feuer. Nach einigen Trainingsmonaten beschloss sie, an einer seiner Kletterexpedition in Rumänien teilzunehmen.

Daniels erste Expedition

Bergsteiger, insbesondere Alpinisten, legen sehr großen Wert auf das nötige Ausdauertraining. Mit Laufen, Schwimmen und Radfahren wird das Durchhaltevermögen bei einem stundenlangen Bergaufstieg trainiert. Die Leistungsfähigkeit der Lunge und des Herzens sind wichtige Komponente beim Klettern. Beim Bergsteigen geht es nicht um die Geschwindigkeit, sondern um die Ausdauer.

Daniel nahm an Triathlon-Wettkämpfen teil, um ihre körperliche Fitness auf ein Maximum zu trimmen. Die durchtrainierte Daniel entdeckte für sich auf einem kleinen Berg in Rumänien die Welt des Alpinismus. Das Klettern ging ihr leicht von der Hand und sie fühlte sich bei steigender Höhe sichtlich wohl. Selbst die durchtrainiertesten Iron-Men-Sportler können bei einer Höhe von 5000 Meter Schwächeanfälle spüren. Anders war es bei Daniel. Je höher sie stieg, umso besser ging es ihr. Sie erklärt den Zustand mit dem russischen Sprichwort „Höhen-DNA“. Sie spürte, dass sie zu etwas Größerem geboren war. Sie hatte ihr Herz an den Klettersport verloren. 

Der Everest

Daniel schrieb sich zusammen mit ihrem Trainer zu einem Marathon am Fuße des Mount Everest ein. Viele Mitläufer hatten schon zu Beginn der Strecke mit den Höhenunterschieden zu kämpfen. Schwindelgefühle, Atemprobleme, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen sind nur ein Teil der Symptome, die bei einer Höhenkrankheit auftreten können. Doch Daniel fühlte sich von Anstieg zu Anstieg ausgesprochen wohl. Ihr wurde klar, dass ihr Ziel, den Everest zu erklimmen, näher rückte als sie sich damals im Krankenhaus in Bulgarien hätte träumen lassen. Das Datum für ihre Everest-Expedition wurde aufgesetzt.

Ein unglaublich schwieriger Aufstieg. Der Berg forderte das Leben von 300 Alpinisten.
Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Daniel Wolfson

Bevor Daniel nach Nepal in Südasien aufbracht, setzte sie ein Testament auf. Sie übergab ihrem Sohn die Passwörter für Computer, Mail, Bankdaten und alle wichtigen persönlichen Zugangsdaten. Sie wusste, dass ihr Everest-Traum mit dem Risiko verbunden war, dass sie beim Auf- oder Abstieg ihr Leben auf dem Gipfel verlieren könnte. Um keine weiteren Menschen in Gefahr zu bringen, forderte sie von ihrem Sohn, keine Rettungsaktionen oder Bergungsversuche zu unternehmen, sollte ihr bei der Expedition etwas zustoßen. Die Anordnung hielt sie notariell in ihrem letzten Willen fest.

Das „Aufnähen“ beginnt 

Der unglaublich schwierige Aufstieg auf den höchsten Berg der Welt umfasst Trainingsbesuche des 5.350 Meter hohen Basislagers und vier weiteren Camps auf dem Weg zum Gipfel. Bei diesen Trainingsbesuchen und Aufstiegen gewöhnt sich der menschliche Körper langsam an die Höhenbedingungen und den beängstigenden Sauerstoffmangel, der besonders im Schlaf zu spüren ist. Die Trainingsaufstiege sind so geplant, dass nach jeder Einheit eine Pause über mehrere Wochen eingehalten wird. Im Fachjargon nennen sich diese Aklimatisierungsübungen „den Berg aufnähen“.

Begleitet werden die Alpinisten von den tibetischen Mitgliedern des Sherpa-Stammes. Sie sind zuständig für die Nahrungsversorgung sowie den Auf- und Abbau der Lager. Persönliche Gegenstände wie Schlafsäcke, Kleidung und hygienische Produkte schleppt jeder Bergsteiger selbst. Dabei kommt nur das Wichtigste zum Überleben in den Rucksack. Trotz der sorgfältigen Auswahl persönlicher Utensilien kann der Rucksack und Schlitten eines Alpinisten zwischen 15 und 20 Kilo wiegen. In einem Interview mit der israelischen Zeitung „Laisha“ (zu deutsch: Für die Frau) erzählt Daniel, dass sie bei schwierigen Aufstiegen auch schon mal wochenlang auf Zahnbürsten und Zahncremes verzichtet hat. Auch auf das Duschen wird bei den eisigen Temperaturen, die auf dem Everest herrschen und bis zu -25 Grad Celsius erreichen können, meist verzichtet. Man versucht so möglichen Unterkühlungen und daraus resultierenden Erkältungen aus dem Weg zu gehen.

Daniels großer Tag näherte sich. Nach der Eingewöhnungszeit und dem Training muss der beste Tag für den Gipfelaufstieg ausgewählt werden. Eine solche Expedition dauert meist bis zu sechs Wochen, manchmal sogar länger. 

Überlebensmodus oder Egoismus

Je weiter die Expedition fortschritt, desto schwächer fühlte sich die 43-Jährige. Sie hatte sich erkältet und die Infektion droht ihre Mission zu zerstören. Daniel verlor von Tag zu Tag an Kräften. Von Aufstieg zu Aufstieg wurde der Weg für die Bergsteigerin schwerer und mühseliger. Daniels Tempo wurde zusehend langsamer und drohte auch den Rest der Truppe aufzuhalten. Der ersehnte Triumph der Gipfelbezwingung drohte zu platzen.

Daniel im Camp ein paar Tage vor dem Aufstieg zum Gipfel – die meisten Bergsteiger verunglücken beim Abstieg.
Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Daniel Wolfson

Bei einem lautstarken Streit mit einem der Alpinisten verlangte deser von Daniel, ihren Aufstieg abzubrechen, um nicht die Mission der restlichen Truppe zu gefährden. Der Mount Everest ist ein Berg von Egoisten, besser gesagt von Solisten. An die Spitze geht jeder allein. Auf dem Everest verlieren sich alle Prinzipien und jede Moral. Auf 8000 Metern Höhe kümmert sich jeder nur noch um sich selbst. Der menschliche Überlebensmodus schaltet sich ein. Daniel verstand, dass sie nicht auf die Hilfe oder das Verständnis ihrer Kollegen hoffen konnte. Sie suchte das Lager auf, um sich über die Zukunft ihres Aufstiegs im Klaren zu werden. Daniel war sich bewusst, dass ein intelligenter und geübter Alpinist weiß, wann er eine Expedition abbrechen und umkehren muss. Doch zurück im Camp fand sie zu neuen Kräften. Ihr wurde klar, dass dies ihre einzige Chance war, ihr Ziel zu erreichen und sich ihren jahrelangen Traum zu erfüllen.

Leerer Sauerstofftank

Daniel und ihre Kollegen beginnen den Aufstieg in der Nacht. Bei minus 20 bis minus 25 Grad sind die Wetterverhältnisse nachts dennoch milder und weniger windig als unter Tags.

Doch kurz vor dem Gipfel bemerkt Daniel, dass ihr Sauerstofftank fast leer ist. Würde sie sich auf einer solchen Höhe einfach hinsetzen, wäre dies ihr Todesurteil. Sie erinnert sich, dass drei weitere Bergsteiger-Gruppen aufgrund einer Covid-Erkrankung ihre Mission frühzeitig abbrechen mussten und umgekehrt waren. Sie weiß, dass die Expeditionsführer im Voraus sogenannte Notfall-Sauerstoffballons gelagert hatten. Daniel sieht sich um und findet einen Sauerstoffkanister, der für eine der Covid-Gruppen gedacht war, die es jedoch nie so weit geschafft hatten. Ihr kühler Kopf rettet Daniel in diesen Augenblicken das Leben. Kein anderer Alpinist hätte ihr, für alles Geld der Welt, seine eigene Sauerstoffration übergeben. 

Freude vermischt mit Trauer

Daniel steigt weiter und erreicht am 25. Mai 2021 um 9Uhr morgens den Gipfel des Mount Everest. Stolz schwenkt sie ihre Fahne: die blau-weiße Flagge des jüdischen Staates. 

Als Daniel ihren Traum erfüllte und den Gipfel erreichte, erzählt sie später, habe sie eine tiefe Trauer verspürt. Den 20 glorreichen Minuten, die sie auf dem Gipfel der Welt verbrachte, konnte sie nicht einmal ein Lächeln abgewinnen.

Daniel hat es geschafft, – glücklich und voll stolz auf ihr Land schwenkt sie ihre blau-weiße Israelahne auf der Spitze des höchsten Berges der Welt, dem Mount Everest. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Daniel Wolfson

Beim Mount Everest handelt es sich zwar nicht um den gefährlichsten Berg der Welt, doch etwa 300 Menschen verloren ihr Leben bei dem Versuch, den Gipfel zu bezwingen. Die sterblichen Überreste von fast 100 Bergsteigern, die auf einer Höhe von 8000 Metern über dem Meeresspiegel abgestützt sind, konnten bis heute nicht geborgen werden. Ihre Körper sind in ihrer Kletterausrüstung im Eis festgefroren.

Der Berg fordert seine Opfer

Daniel wusste, dass sie bei der letzten Etappe auf viele Leichen stoßen würde, doch der Anblick verstorbener Kletterkollegen hat der mutigen Frau schwer zugesetzt.

Nach ihrer historischen Expedition regenerierte sich Daniel eine Woche in Kathmandu. Ihr Körper war sehr schwach. Daniel schlief viel und versuchte sich mit Nahrung gesund zu essen. Langsam kehrten die Kräfte zu ihr zurück. Am 4. Juni 2021 flog sie zurück ins Heilige Land. Sie wurde zur ersten israelischen Frau auf dem Everest gekürt. Ein historischer und beeindruckender Sieg für das kleine jüdische Land. 

Daniel träumt davon, den Alpinismus unter Frauen voranzutreiben. Bis dato galt das Bergsteigen als männliches Territorium. Doch in ihren Augen sind Frauen einfach mit besseren Überlebenstaktiken ausgestattet und kommen auch mit den unglaublichen Höhenunterschieden besser zurecht als das sogenannte starke Geschlecht. Daniel würde sich selbst nicht als Feministin bezeichnen. Sie versucht zu erklären, dass jeder seinen persönlichen Gipfel zu besiegen hat. Jeder Mensch hat einen Traum: ob Karriere, Familie, eine liebevolle Partnerschaft oder eben der Everest. In Ihren Augen sollte jede Person um ihren Traum kämpfen. Und wenn sie es schaffte, den höchsten Gipfel der Erde zu besteigen – dann schafft es auch jeder andere, seinen persönlichen Berg zu bezwingen.

Für uns ist Daniel Wolfson ein Vorbild und eine Heldin. Ganz nach dem Motto „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen“, kämpfte sie gegen jede Prophezeiung und verwirklichte sich ihren Traum. Statt Umhang trägt sie Bergsteigerausrüstung.

Titelbild: Die hübsche Rechtsanwältin hat es gegen alle Voraussagen geschafft, ihren Traum zu verwirklichen und bezwang als erste Israelin den Mount Everest. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Daniel Wolfson

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