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Helden ohne Umhang (42) – Asael Shabo: „Vom körperlich behinderten Terroropfer zum israelischen Superathleten“

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 27.05.2022 – Asael war erst neun Jahre alt, als ein palästinensisches Terrorkommando in sein Elternhaus in der jüdischen Siedlung Itamar eindrang. Seine Mutter und drei seiner Brüder wurden vor seinen Augen umgebracht. Zweihundert Granatsplitter und drei Kugeln durchsiebten den Körper des kleinen Jungen und durchtrennten sein Bein. Trotz seiner schweren Verletzungen und des Verlustes seiner geliebten Familie kämpfte Asael mit aller Kraft, um die seelischen und körperlichen Schmerzen zu überwinden und wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Die beeindruckende Geschichte eines kleinen Jungen, der aus einer grausamen Tragödie in ein neues Leben wuchs.

Behütete Kindheit

Asael Shabo wurde 1993 als sechstes von sieben Kindern in den Bergen der jüdischen Siedlung Itamar in Samaria geboren. Die Siedlung liegt nur fünf Kilometer südöstlich der palästinensischen Stadt Nablus. Der Außenposten wurde 1984 gegründet und erhielt den biblischen Namen des jüngsten Sohnes von Aaron.

Asael genoss eine behütete Kindheit. Er erinnert sich gerne an sein Heimatdorf zurück. Die Kindheitserinnerungen gemeinsamer Stunden mit seinen Brüdern auf dem Spielplatz zaubern dem jungen Mann ein bitteres Lächeln ins Gesicht. Die lebhaften Bilder eines gedeckten Schabbattisches, an dem er mit seinen sechs Brüdern und seinen Eltern saß, spielen sich bis heute vor seinen Augen ab. Das Lachen einer glücklichen Familie erfüllte in diesen Tagen das Haus der Shabos.

Die glückliche Kindheit des kleinen Asael endete jäh im Jahr 2002. Es war der 20. Juni, ein sommerlicher Donnerstagabend. Gegen 21 Uhr brachen zwei palästinensische Terroristen der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ durch den Sicherheitszaun in die Siedlung ein.

Grausames Massaker

Asael und seine Brüder befanden sich in der Küche, die Mutter und seine Schwester hielten sich im Obergeschoss auf. Die Täter drangen über die Hintertür in das Haus ein. Sofort eröffneten die Terroristen das Feuer auf die Buben. Sie erschossen Neria, der damals 15 Jahre alt war, den 12-jährigen Zvika und den kleinen Avishai. Das Nesthäkchen war damals gerade einmal fünf Jahre alt. Asaels Brüder starben vor seinen Augen. Der damals 9-Jährige lag schwer verletzt auf dem Küchenboden. Asael erzählt später, dass er in diesen Minuten mit seinem Leben abgeschlossen hatte.

Die Mutter der Kinder, Rachel, hörte im oberen Stockwerk die Schüsse und rannte die Treppen hinunter. Asael blickte noch in das Gesicht seiner Mutter, doch einer der Terroristen eröffnete das Feuer und tötete sie. Die 13-jährige Avia versteckte sich im Elternzimmer unter dem Ehebett. Vater Boaz war zum Zeitpunkt des Anschlages bei der Arbeit. Die beiden größeren Geschwister, der 17-jährige Yariv und der 16 Jahre alte Atara, waren zu Besuch bei Freunden.

Sicherheitseinheit eilt zu Hilfe

Die Schüsse machten die örtliche Sicherheitseinheit auf den Terroranschlag aufmerksam. Das Team versuchte das Haus zu stürmen, um die Familie zu retten. Yosef Twito, der 31-jährige Nachbar der Shabos und Familienvater von fünf Kindern, befehligte das Sicherheitskommando. Asael sah, wie sein Nachbar über den Garten versuchte, die eingeschlossenen überlebenden Kinder zu retten, doch Twito wurde von den Kugeln der Terroristen lebensgefährlich verletzt und starb noch am Tatort.

Das Elternhaus der Familie Shabo nach dem schrecklichen Anschlag. Foto: IDF Spokesperson

Asael lag die ganze Zeit über in seinem eigenen Blut am Boden. Die Kugeln und Granatsplitter hatten seinen Körper durchsiebt und sein Bein schwer verletzt. Der 9-Jährige stellte sich tot. Immer wieder traten die Terroristen auf das Kind ein, um sicherzugehen, dass es nicht mehr am Leben war. Dann gingen sie in den zweiten Stock. Die 12-jährige Avia versteckte sich noch immer unter dem Bett ihrer Eltern. Einer der Terroristen verschanzte sich genau in diesem Zimmer, unwissend, dass sich dort ein kleines jüdisches Mädchen aufhielt.

Spezialeinheiten der israelischen Armee, Sondertruppen der Grenzpolizei sowie militärische Anti-Terroreinheiten trafen am Tatort ein. Den Soldaten war bewusst, dass sie schnellstmöglich handeln müssen. Eine Stunde nach den ersten Schüssen stürmten die Einheiten das Haus, in dem sich die Terroristen noch immer verschanzten. Im oberen Stockwerk telefonierte einer der Terroristen im Badezimmer. Ein Soldat entdeckte die kleine Avia unter dem Bett und versuchte das Mädchen in Sicherheit zu bringen. Doch plötzlich kam der Terrorist unerwartet aus dem Badezimmer heraus und eröffnete das Feuer auf die beiden. Avia wurde von einer Kugel lebensgefährlich am Bauch getroffen. Den Sicherheitskräften gelang es jedoch, den Palästinenser zu erschießen. Während der schweren Feuergefechte floh der zweite Mörder durch eines der Fenster. Die israelischen Sicherheitskräfte konnten ihn nach einem kurzen Schusswechsel im benachbarten Haus töten.

Schwere Verletzung und Amputation

Bei der Befreiungsmission wurden acht Israelis schwer verletzt und das Haus der Familie Shabo ging in Flammen auf. Asael wurde auf eine Trage gelegt und nach draußen gebracht. Die Soldaten glaubten, das Kind lebe nicht mehr. Asael, der unter schwerem Schock stand und die ganze Zeit über seine Augen geschlossen hielt, verspürte einen leichten Luftzug auf seiner Haut. Er verstand, dass er nicht mehr im Haus war und begann um Hilfe zu schreien. Asael war lebensgefährlich verletzt. Die Sicherheitskräfte fuhren Asael zum nahe gelegenen Armeestützpunkt, von dort wurde der 9-Jährige mit einem Helikopter in das Sheba-Kinderkrankenhaus in Ramat Gan gebracht. Den gesamten Flug über versuchten die Ärzte, den kleinen Jungen bei Bewusstsein zu halten. Asael erzählte ihnen von seinen sechs Geschwistern – doch die grausamen Bilder vom Tod seiner geliebten Brüder hatten sich tief in die kleine Kinderseele gebrannt. Im Krankenhaus angekommen, versetzten die Ärzte Asael in ein künstliches Koma.

Die Beerdigung der Familie Shabo am 21. Juni 2002 in Itamar. Foto: IDF Spokesperson

Asaels rechtes Bein wurde von drei Kugeln und Hunderten von Splittern durchsiebt. Trotz großer medizinischer Anstrengung mussten es die Ärzte in einer Notoperation oberhalb des Knies amputieren. Der 9-Jährige erwachte erst einige Zeit später. Die Schmerzen der körperlichen Verletzungen und der Schmerz über den Verlust seiner Familie drohten den kleinen Jungen zu zerbrechen. Das schreckliche Trauma sollte ihn für den Rest seines Lebens begleiten.

Asael erzählte später, dass er unter extremen Phantomschmerzen litt: „Es fühlte sich an, als würde man mit einem Hammer auf mein Bein schlagen und es Knochen für Knochen zertrümmern, auch wenn in Wirklichkeit überhaupt kein Bein mehr da war. Es war schrecklich.“

Die Sehnsucht nach der Familie

Doch Asael litt nicht nur an unglaublichen körperlichen Schmerzen. Er vermisste seine Familie. Immer wieder flehte das Kind zu Gott. Er bat den Schöpfer, einen seiner Brüder zurückzuschicken und stattdessen ihn zu sich zu holen. Kurz vor seinem elften Geburtstag durfte Asael endlich die Klinik verlassen. Fast zwei Jahre lang befand er sich im Krankenhaus. Asael war ein körperlich und seelisch schwer verletztes Kind. Ein beinamputierter kleiner Mann, der in seinen jungen Jahren unfreiwillig erwachsen geworden war.

Mama Rachel und die drei getöteten Geschwister Neria, Zvika und Avishai. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Asael Shabo

Während seines langen Krankenhausaufenthalts wartete Asael voller Vorfreude auf den Tag, an dem er endlich wieder in die Schule gehen konnte. Er sehnte sich nach der Gemeinschaft mit seinen Freunden und gleichaltrigen Klassenkameraden. Doch Asaels Vater Boaz beschloss nach der schrecklichen Tragödie, Itamar zu verlassen. Er zog mit den vier hinterbliebenen Kindern – Asael, Yariv, Atara und Avia – in die Siedlung Kedumim in Samaria. Asael, der in den vergangenen zwei Jahren davon geträumt hatte, wieder mit seinen Freunden vereint zu sein, litt in der neuen Umgebung unter schweren sozialen Problemen. Er besuchte die sechste Klasse. Seinen Mitschüler akzeptierten den körperlich behinderten „Neuen“ nicht. Das Kind wurde zum Außenseiter. Die Lage wurde für den Elfjährigen so schlimm, dass er sich wünschte, zurück ins Krankenhaus gehen zu können.

Neustart für Papa Boaz

Kurz nach Asaels 14. Geburtstag erhellte ein kleiner Lichtblick die Familie. Vater Boaz heiratete ein weiteres Mal. Seine Herzensdame Hila brachte selbst fünf Kinder mit in die Ehe. Ein paar Jahre später wurde die Ehe von Boaz und Hila mit süßen Drillingen gesegnet: zwei Söhne und eine Tochter. Die Drillinge wurden von der Familie als göttliches Geschenk aufgenommen. Die Familie hatte zwar drei Engel verloren, doch wurden sie mit drei kleine Kinderseelen beschenkt. Die Bindung der Großfamilie wurde immer stärker. Die Patchwork-Familie lernte jeden gemeinsamen Moment zu schätzen.

Für Asael wurde Sport zum täglichen Therapiebegleiter. Es begann mit Schwimmeinheiten im Schwimm-Center in Ramat Gan. Der Junge fing Feuer. Immer wenn die Tragödie ihn einzuholen drohte, fuhr Asael zum Schwimmtraining. Oft fühlte er sich als Fremder in einer Welt, die niemand verstand. Das Schwimmen, die Ruhe und das Wasser wurden für den Jungen zu einer wichtigen Balance im Leben. Asael trainierte in jeder freien Minute. Im Alter von 16 Jahren gewann er seine erste nationale Meisterschaft im Behindertenschwimmen für Erwachsene und Jugendliche. Er wurde israelischer Meister im paralympischen Schwimmen und vertrat den kleinen jüdischen Staat voller Stolz bei internationalen Schwimmwettbewerben.

Asael sticht durch herausragende Leistungen im paralympischen Schwimmen hervor. Die Ruhe und Stille des Wassers helfen ihm, in sein Inneres zu hören und die Traumata zu verarbeiten. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Asael Shabo

Nach acht Jahren psychologischer Behandlungen, die Asael gleich nach dem tödlichen Anschlag begann, fühlte er, dass es an der Zeit war, etwas in seinem Leben zu verändern. Der individuelle Schwimmsport schenkte dem jungen Mann zwar Halt, doch wünschte der paralympische Schwimmer sich ein sozialeres Leben. Die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen fand er im Basketball. Zu Beginn erschien ihm die Vorstellung, an einen Rollstuhl gefesselt, Basketball zu spielen, als unvorstellbar. Doch mit der Zeit wurde ihm klar, dass ein Basketball-Rollstuhl schon fast einem Autoscooter ähnelt: „Manche fahren auf einem Fahrrad und andere auf einem Rollstuhl.“ Mit der Zeit begann er, den neu erlernten Sport zu lieben. Seinen Kampfgeist bewies Asael auch auf dem Basketballfeld. Seit einigen Jahren spielt er nun für die israelische Nationalmannschaft im Behindertenbasketball und wurde sogar zum führenden Spieler der besten Liga der Welt im paralympischen Basketball gewählt.

Asael hoch konzentriert bei einer seiner Meisterschaften. Nach langen Jahren des Einzel-Schwimmtrainings fand er beim Basketball neue Freunde. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Asael Shabo

Im Alter von 18 Jahren machte Asael sein Abitur und gab sich danach ganz dem Schwimm- und Basketballtraining hin. Der Sport ist bis heute ein fester Bestandteil seines Lebens.

Die große Liebe

Asael traf seine große Liebe Sari, als er 17 Jahre alt war. Sari arbeitete damals im Rahmen ihres nationalen Zivildienstes im Tel HaShomer Krankenhaus in Ramat Gan. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Nach fünf Jahren fasste Asael den Mut und hielt während der Halbzeit eines großen Basketballspiels um ihre Hand an. Die Zuschauer teilten die große Aufregung des jungen Paares und kein Auge blieb an diesem Abend in der Halle trocken. Im vergangenen Jahr gab sich das bezaubernde Paar das Ja-Wort. Heute lebt Asael mit seiner Ehefrau Sari und ihrem zwei Monate alten Söhnchen in der zentralisraelischen Stadt Ramat Gan. Sari weiß, dass ihre Liebe noch viele Wunden heilen muss, die sich in Asaels Seele eingebrannt haben. Doch die junge Frau ist sich sicher, dass ihre Liebe alle Hindernisse überwinden kann. In einem Interview mit dem israelischen Nachrichtenportal Israel Hayom erzählte Asael, dass Sari seine Hauptstütze im Leben ist: „Jedes Mal, wenn ich mich unwohl fühle, springt sie sofort auf wie eine Löwin und tut alles für mich. Sie weiß immer, was sie mir sagen muss und wie sie mir helfen kann.“

Soldaten- und Terroropfer-Gedenktag

Asael braucht den staatlichen Gedenktag nicht, um seiner Familie zu gedenken. Die Familientragödie hat einen eigenen, speziellen Trauertag. An diesen Tagen holen den Spitzensportler die Geräusche des Anschlags und der verbrannte Geruch des Hauses wieder ein. Die grausamen Bilder und traurigen Erinnerungen kehren zurück. Die Gedanken an seine Familie beschäftigen ihn jeden Tag. Asael glaubt, dass es mit seiner Behinderung zusammenhängt. Jeder Blick auf sein abgetrenntes Bein erinnert den jungen Mann an den Tag vor 20 Jahren. Dennoch ist der israelische Gedenktag für Asael etwas Besonderes. Er erinnert an den Tribut aller Ermordeten, die ihr Teuerstes für das Land gaben.

Terror wird zur Routine

Der Athlet hat es sich zum Lebensinhalt gemacht, hinterbliebene Familien von Terroropfern zu unterstützen. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass bloße Worte nicht helfen. Asael besucht die Familien und schenkt ihnen durch seine eigene Geschichte neue Hoffnung.

Heute hält Asael auch Vorträge in israelischen Schulen, bei gemeinnützigen Organisationen und Vereinen. Er berichtet seinen Zuhörern vom Tag der Attacke und den Schwierigkeiten, die er danach durchlebte. Er lässt sein Publikum teilhaben an seiner Liebe für die Familie, die er verloren hat, und der Familie, die neu erschaffen wurde. Asael versucht eine Botschaft der Stärke zu vermitteln. Er hofft, dass seine Zuhörer eine tiefere Wertschätzung für ihre eigene Familie mit auf den Weg nehmen. Sein Wunsch ist es, dass sein Publikum nach den Vorträgen mit alltäglichen Schwierigkeiten besser umgehen kann.

Oft wird der junge Redner von seinen Zuhörern gefragt, ob er Araber hasse. Asael ist trotz des Verlustes seiner Familie nicht der Auffassung, dass ein Mensch „böse“ geboren wird. Darum ist er überzeugt, dass nicht alle Araber ihre jüdischen Nachbarn hassen. Asael glaubt, die Lösung liege in der Akzeptanz des Gegenübers, im Sehen und Verstehen der anderen Seite. Der Schlüssel zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist in den Augen des Sportlers Erziehung und Bildung.

Symbol für den Sieg des Geistes

Das Ministerium für Kultur und Sport veröffentlichte zu Beginn des Jahres die Namen der bedeutenden Persönlichkeiten, die bei der Zeremonie zum 74. Unabhängigkeitstag des Staates Israel auf dem Herzlberg in Jerusalem die Fackeln anzünden dürfen. Unter ihnen war auch Asael Shabo. Seine Geschichte und sein tapferer Kampf zurück ins Leben berühren ein ganzes Land.

Asael Shabo zündet eine Fackel während der Feierlichkeiten zum 74. Unabhängigkeitstag Israels auf dem Herzl-Berg in Jerusalem an.
Foto: Yonatan Sindel / Flash90

Trotz der schrecklichen Tragödie repräsentiert Asael für viele Israelis den Sieg über den Terror. Er ist ein herausragender Athlet, ein Pädagoge und ein Vorbild für jeden, der auf seinem Lebensweg zu stolpern droht. Asael lehrt uns, wie wir trotz aller Schwierigkeiten jeden Tag aufs Neue gewinnen können. Asael Shabo ist unser Held. Statt Umhang trägt er eine Schwimmbrille.

Titelbild: Asael Shabo, der herausragende Athlet, ist ein Vorbild für eine ganze Nation. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Asael Shabo

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