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Israels Schulsystem vor dem Zusammenbruch – 20.000 Lehrer und Kindergärtnerinnen demonstrieren für bessere Konditionen

TEL AVIV, 31.05.2022 (NH) – Ein weiteres Mal trägt das Bildungsministerium und das Ministerium für Finanzen ihren Machtkampf auf dem Rücken israelischer Eltern aus. Die Lehrergewerkschaft entschied gestern, auf Kosten des Schulunterrichts eine Protestdemonstration in Tel Aviv auszurichten. Die Lehrer fordern mit Unterstützung der Vorsitzenden der Gewerkschaft Yaffa Ben-David eine Lohnerhöhung für ihre herausfordernde Arbeit. Die Gewerkschaft droht, sollte es keine Erhöhung der Lehrerlöhne geben, werden zu Beginn des neuen Schuljahres im September 10.000 Lehrämter unbesetzt bleiben.

Hungergehalt für Lehrpersonal

Schilder mit der Aufschrift „Arme Lehrer“, „Rund um die Uhr ohne Geld“ und „Ab sofort faire Gehälter“ wurden gestern Nachmittag auf dem Tel Aviver Museumsplatz geschwenkt. Mehr als 20.000 Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen protestierten gestern in der Mittelmeerstadt. Der landesweite Protest, bei dem Kindergärten, Grundschulen und selbst Einrichtungen für Sonderpädagogik den Unterricht frühzeitig beendeten, soll über die Eltern der Kinder Druck auf das Finanz- und Bildungsministerium ausüben. Die Unterzeichnung neuer Tarifverträge mit dem Finanzministerium wird noch vor Beginn des neuen Schuljahres gefordert. Dabei steht ein Anfangsgehalt von 2.785 Euro für neues Lehrpersonal im Vordergrund.

Die Vorsitzende Jaffa Ben-David versuchte, deutlich zu machen, dass sich das israelische Bildungssystem vor dem Zusammenbruch befindet. „Der Regierung ist die Bildung in Israel gleichgültig“, so Ben-David. Seit Monaten versuche die Lehrergewerkschaft, eine Einvernehmung mit dem Finanzministerium zu erwirken, jedoch leider erfolglos. Die Gewerkschaft warnte bereits zuvor, dass fehlendes Lehrpersonal aufgrund fehlender Lohnvereinbarungen das System zum Einbruch bringen würden. Immer mehr und mehr Lehrer würden das Schulsystem verlassen. Der Gehalt eines Lehrers reiche in vielen Familien bei ständig steigenden Lebensunterhaltungskosten nicht mehr aus.

Junges Lehrpersonal gewährt dem israelischen Nachrichtensender N12 einen Einblick in ihre Gehälter. Bei einer Vollzeitstelle verdienen viele Pädagogen in den ersten Jahren zwischen 1.080 Euro bis zu 1.450 Euro. Ein Hungerlohn für die Lehrkräfte.

Zehntausende Lehrpositionen nicht besetzt

Tatsächlich würde das neue Schuljahr im September mit mehr als zehntausenden fehlenden Lehrpositionen beginnen. Bereits jetzt setzte das Bildungsministerium das Personal darüber in Kenntnis, dass jeder Lehrer drei Klassen unterrichten müsse – Kinder mit Lernschwächen fallen damit durch die Maschen.

Mehr als 20.000 Lehrer protestierten gestern in Tel Aviv für bessere Lohnbedingungen. Foto: Tomer Neuberg/Flash90

Finanzminister Avigdor Lieberman kündigte bereits an, dass er die Lohnanträge nicht nur anerkennen, sondern gar unterschreiben wolle. Doch setzt das Finanzministerium Hauptfaktoren für die Förderung neuer Lehrertarife voraus. Liberman fordert zunächst eine Angleichung der drastischen Gehaltsunterschiede von jungen Pädagogen zu berufserfahrenem Lehrpersonal. Des Weiteren soll sich das Gehalt des Kollegiums nicht nur durch gesammelte Dienstjahre, sondern auch durch herausragende Leistungen zusammensetzen – ein besonderer Ansporn für beginnende Lehrkräfte. Der gravierende Stolperstein in den Verhandlungen ist die Forderung Libermans, die große Kluft zwischen den Urlaubstagen der Eltern und den Schulferien der Kinder zu verringern.

Mehr Geld aber kürzere Ferien

Tatsächlich genießen israelische Kinder mehr als 94 Ferientage. Die langen Schulferien stehen 12 Urlaubstagen der Eltern gegenüber. Des Weiteren arbeiten israelische Erwerbstätige mehr als jedes andere westliche Land. Nicht nur die Geburtenrate liegt im Heiligen Land bei mehr als 80 % über dem OECD-Durchschnitt, Israelis arbeiten im Vergleich zu anderen Ländern in der internationalen Organisation zwischen 4,5 bis 7,5 Stunden mehr pro Woche. Dazu arbeiten in Israel 77 % der Mütter Vollzeit. Bei alleinerziehenden Mamas wurde anlässlich des Frauentages in Jahr 2018 eine Statistik von 83,6 % veröffentlicht. Libermans Forderung, die achtwöchigen Sommerferien zu kürzen, wäre für viele erwerbstätige Familien ein Lichtblick.

Letzteres Leitprinzip wurde von der Lehrergewerkschaft missbilligend hingenommen. Jaffa Ben-David zeigte sich entrüstet: „Ich habe Neuigkeiten für die Finanzbeamte: Das wird nicht passieren – und schon gar nicht unter meiner Aufsicht. Die Sommerferien werden nicht angetastet. Es ist der Sauerstoff eines jeden Lehrers.“

Ein weiterer Vorschlag Libermans ist, die Schulferien von den Monaten Juli/August auf August/September zu verschieben und so die gesamten hohen jüdischen Feiertage in die Sommerferien miteinzubeziehen. Das wäre für viele Eltern hilfreich, da aufgrund der Feiertage oft schon kurz nach den Sommerferien wieder viele freie Tage anstehen.

Ob die Schulen ihre Türen zum 1. September wie geplant eröffnen oder die Lehrergewerkschaft droht, mit weiteren Streiks das Finanzministerium in die Knie zu zwingen, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Titelbild: Israelische Lehrer protestieren, am 30. Mai 2022 in Tel Aviv für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen. Foto: Tomer Neuberg/Flash90

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