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Helden ohne Umhang (43) – Gilad Lachiani: „Vom Kampf im Libanonkrieg zur eigenen Kajakschule“

von Nadine Haim Gani

JERUSALEM, 10.06.2022 – Ein hebräisches Sprichwort besagt „Ein Mensch kann nicht zweimal den gleichen Fluss bezwingen. Der Mensch hat sich verändert und so auch der Fluss.“ Gilad Lachani, der als Kämpfer des Nahal-Bataillons im zweiten Libanonkrieg schwer verwundet wurde, hat diese beachtliche Veränderung hinter sich. Er gründete nach einer langen, schwierigen Rehabilitation nicht nur eine eigene Familie, sondern erfüllte sich den langjährigen Traum einer eigenen Raftingschule. Er gewann den eigenen persönlichen Kampf gegen den Terror. 

Gilad Lachiani wurde am 28. Juli 1986 in der Siedlung Yesod HaMa’aleh im oberen Galiläa geboren und wuchs in der pastoralen Gemeinde auf. Er hat zwei Schwestern und einen kleinen Bruder. Seine große Liebe zum Kajaksport entdeckte der Junge im Alter von zehn Jahren. Der kleine Gilad und die Flüsse Israels waren unzertrennlich.

Armeedienst im Libanonkrieg

Nachdem Gilad seinen Schulabschluss erfolgreich beendet hatte, meldete er sich zum Dienst in der Nahal-Brigade. Gilad war gerade dabei, einen Kommandanten-Kurs für Soldaten in der Grundausbildung zu absolvieren, als kurz vor Ende des Trainings am 25. Juni 2006 der israelische Soldat Gilad Schalit von Hamas-Terroristen entführt wurde. Die Entführung zog die israelische Armee in eine blutige Militäroffensive mit der palästinensischen Terrororganisation im Gazastreifen. Im Norden nahm die libanesische Terrororganisation Hisbollah das Land unter Raketenbeschuss. Nachdem bei einer Militäraktivität zwei israelische Armeefahrzeuge von Hisbollah-Terroristen attackiert, die Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev entführt und drei weitere Sicherheitskräfte getötet wurden, brach nur zwei Wochen später, am 12. Juli 2006, der zweite Libanonkrieg über das Land herein. Israel stand vor einem Kriegschaos.

Der junge Nahal-Soldat wurde zu den Schlachten gegen die Hisbollah im Südlibanon geschickt. Gilad und seine Truppe kämpften an mehreren Schauplätzen. In der letzten Kriegsphase wurde Gilad schwer verwundet. Der schreckliche Vorfall geschah an einem Samstagvormittag. Gilad und seine Soldaten hatten sich in einem Gebäude in Wadi Saluki verbarrikadiert und nahmen Hisbollah-Terroristen unter Beschuss. Die dreitägige Schlacht im Wadi Saluki war die letzte Offensivoperation des israelischen Militärs, kurz IDF, vor Eintreten der Feuerpause. Die israelische Armee hatten die Anzahl ihrer Streitkräfte vor Ort verdreifacht. Ziel der Saluki-Offensive war es, die Hisbollah-Kämpfer einzukreisen und auszuschalten, in der Hoffnung auf diese Weise die Infrastruktur der Terrororganisation zu zerstören. Das Hauptziel waren die Abschussgebiete der Katjuscha-Raketen in Richtung Israel. Doch die IDF erlitt schwerste Verluste: 33 israelische Soldaten und Offiziere wurden getötet, über 400 schwer verletzt.

Ein Granatsplitter zerstört das Auge

Gilad und seinen Kumpanen waren für die Rückendeckung zuständig. So ermöglichte den Truppen das stetige Vorrücken in feindliches Gebiet. Gilad und sein guter Freund Zachi hielten zu diesem Zeitpunkt Wache. Die Brigade wiegte sich in ihrem Gebäude in Sicherheit. Aber die Hisbollah hatte das Versteck der Israelis entdeckt und nahmen die Truppe unter massiven Panzerraketen-Beschuss. Eine der feindlichen Kornett-Raketen schlug direkt in dem Stockwerk ein, in dem sich die Soldaten versteckt hielten. Viele Kämpfer wurden bei dem Anschlag verwundet. Zwei von ihnen lebensgefährlich: Gilad und Zachi.

Das Leben der beiden Nahal-Soldaten hing an einem seidenen Faden. Ein israelischer Militärhubschrauber flog sie ins Rambam-Krankenhaus in Haifa. Zachi erlag noch auf dem Weg ins Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Der schmerzliche Verlust seines guten Freundes belastet Gilad bis heute.

Soldaten der Nahaa-Brigade verlassen den Libanon. Foto: IDF Spokesperson

Gilad selbst erlitt schwerste Kopfverletzungen. Granatsplitter hatten seinen Oberkörper durchsiebt und steckten in seinem Kopf. Ein Fragment hatte sein linkes Auge durchbohrt und den Augapfel zerstört. Gilads Zustand war kritisch. Die Ärzte machten seinen Eltern keine großen Hoffnungen, dass ihr geliebter Sohn die Verletzungen überleben würde.

Gilads Wunder

In einer stundenlangen Notoperation wurde versucht, die Granatsplitter aus seinem Kopf zu entfernen. Das Auge selbst war nicht mehr zu rekonstruieren. Gilad hatte das Sehvermögen auf seinem rechten Auge verloren. Durch die OP erhoffte sich das medizinische Team, den lebensgefährlichen Zustand des Patienten zunächst zu stabilisieren. Während der langen OP musste der Patienten immer wieder und über einen langen Zeitraum wiederbelebt werden. Gilad wurde in ein künstliches Koma gelegt und an Beatmungsgeräte angeschlossen.

Doch nach vier Tagen gab der geschwächte Körper des Soldaten auf: Das Herz des Kämpfers hörte auf zu schlagen. Gilads Herz stand über eine Stunde lang still. Der Kampf im Libanon, die schwere Verletzung und die vielen Reanimationen während der ersten lebensrettenden OP waren zu viel für den Körper des jungen Mannes. Die Ärzte des Rambam-Krankenhauses kämpften über eine Stunde unaufhörlich um das Leben des Nahal-Soldaten. Der Einsatz des medizinischen Teams sollte sich lohnen. Sie schafften das Unmögliche und konnten das Leben ihres Patienten retten. Die Chancen, dass Gilads Hirn bleibende Schäden davon getragen hatte, waren jedoch sehr hoch.

Gilad besucht das Grab seines gefallenen Freundes Zachi. Der Schmerz ist dem jungen Mann, wenn er über seinen guten Freund erzählt, anzusehen. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Gilad Lachiani

Gilad erwachte 11 Tage später aus dem Koma. Zunächst wusste er nicht, wer er war. Gilad verstand weder, in welcher Situation er sich befand, noch was mit ihm geschehen war. Doch erkannte der Veteran sehr schnell, dass er nur die Hälfte von seinem Umfeld wahrnahm. Gilad schlussfolgerte, dass er eine schwere Augenverletzung haben musste. Sehr zur Freude seiner Eltern und den behandelten Ärzten, arbeitete Gilads Gehirn problemlos. 

Das Gewässer als Selbstrehabilitation

Nach mehr als zwei Monaten verließ Gilad das Krankenhaus. Er begab sich zur rehabilitierenden Weiterbehandlung in das Tel HaShomer-Krankenhaus in Ramat Gan. Gilad war von Natur aus ein sehr sportlicher junger Mann. Er war sich sicher, dass ihm seine athletische Ausdauer während seiner komplizierten Rehabilitation half. Mit dem unglaublichen Drang, so schnell wie möglich wieder auf den Beinen zu stehen, verblüffte Gilad nicht nur sein gesamtes Umfeld, sondern auch seine behandelnden Ärzte. Sein starker Wille und die unglaublichen Fortschritte seiner Rehabilitation wurden von den medizinischen Teams mit großer Bewunderung und Respekt verfolgt.

Gilad erzählte in einem Interview mit dem israelischen Nachrichtenkanal YNet, dass ihn der Verlust seines Auges eigentlich nie gestört habe. Die größte Problematik stellte für den Kriegsveteranen die körperliche Schwäche und die wiederkehrenden Operationen nach der Verletzung dar. Sein Kopf und Geist arbeiteten zwar wie die eines Spitzensportlers, sein Körper jedoch hielt zu diesem Zeitpunkt mit dem Wunschdenken noch nicht mit. Die Behinderung selbst, die Erblindung des rechten Auges, beeindruckte ihn kaum. Immer wieder versuchten die Leiter der Rehaklinik, ihren Patienten mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dass er vielleicht nicht mehr im Stande sein werde, seine geliebten Kajaktouren so durchzuführen, wie er es zuvor gewohnt war. Doch der Kämpfer schlug diese Option aus. Nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten, sich wieder mit den Gewässern Israels zu vereinen. Die Liebe zum Kajak war Gilads größter Ansporn. Mit dem unbändigen Willen, nicht nur die Flüsse innerhalb Israels bezwingen zu können, sondern auch Gewässer weltweit, kämpfte der Veteran sich durch jede Rehaeinheit. Dabei wurde er von seinem Umfeld und Freunden von ganzem Herzen unterstützt. Noch im Krankenhaus brachten ihm seine Kajakfreunde sein Paddel und weiteres Raftingzubehör.

Ein Kämpfer – zu Land und zu Wasser

Gilads leidenschaftliche Liebe zum Rafting sollte der Schlüssel zu seiner Selbstrehabilitation werden. Nachdem der Kriegveteran das Tel HaShomer Krankenhaus verlassen hatte, stellte er einen persönlichen Rehabilitationsplan auf. Gilad war sich sicher, dass er und sein Kajak den Weg zurück in die Normalität des Lebens finden würden. Dabei erhielt er die vollste Unterstützung der Rehabilitationsabteilung des Verteidigungsministeriums in Tiberias. Sie ließen Gilad freie Hand bei seiner außergewöhnlichen Reha und unterstützten ihn in seinem Vorhaben, wo sie nur konnten. Gilad war sich bewusst, dass nur er die Werkzeuge zu einer vollständigen Genesung in den Händen hielt. Er wusste genau, wie er nicht nur seinen äußeren Heilungsprozess vorantreiben kann, sondern auch, wie er mit seinen tiefen seelischen Verletzungen umgehen musste. Gilad konnte auf diesem Weg auch seine belastenden Kriegstraumata verarbeiten.

Vor der Verletzung im Südlibanon hatte Gilad nicht nur an schwierigen Ruder-Wettkämpfen, sondern auch an Weltmeisterschaften im Kajakfahren teilgenommen. Dabei hatte er auch den ägyptischen Nil bezwungen. Gilad wusste, dass er kurz nach seiner Verletzung noch nicht im Stande war, solche anspruchsvollen Flüsse zu meistern. Er musste seinen Körper langsam wieder auf Vordermann bringen. 

Gilad trainierte auf dem östlichen Kanal des Jordans. Auf diesem Abschnitt war die Strömung des biblischen Flusses nicht allzu stark. Gilad konnte die Gewässer bezwingen. Um das Training zu intensivieren, ruderte der Veteran jedoch gegen die Strömung und erhöhte von Einheit zu Einheit den Schwierigkeitsgrad. Gilad verbrachte seine gesamte Zeit auf dem Wasser. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war der Paddler nicht von seinem Kajak zu trennen.

Große Liebe

Gilads Durchhaltevermögen zahlte sich aus. Mit der Zeit erreichte er sogar ein höheres Kajak-Niveau als vor seiner Verletzung. Gilad strebte große und wilde Flüsse im Ausland an. Langsam stellten die Leistungen sein Selbstvertrauen wieder her. Mit dem wiedergewonnenen Selbstvertrauen erwachte im Herzen des Veteranen der Traum, den er als junger Mann vor seiner Militärzeit geschmiedet hatte: Sein großer Wunsch war es, nach seinem Dienst in der israelischen Armee eine große Reise nach Amerika anzutreten. Die Wildwasser Amerikas stellen ein atemberaubendes Raftingerlebnis für jeden professionellen Kajaksportler dar. Die Verletzung hatte diesen Plan zwar etwas hinausgezögert, doch am Ende reiste Gilad in die USA und erfüllte sich seinen Traum. 

Als Gilad von seinem großen Amerika-Trip zurück nach Israel zurückkehrte, lernte er über gemeinsame Freunde, die Sonderschullehrerin Miri kennen. Für die beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Einige Zeit später gab sich das junge Paar das Ja-Wort. Heute sind Gilad und Miri Eltern von vier bezaubernden Kindern; der 8-jährige Achinoam, Uriah ist sechs Jahre alt, der kleine Yarden ist drei und das Nesthäkchen ist zarte sechs Monate alt. Den kleinsten der Familie tauften die stolzen Eltern auf den bedeutungsvollen Namen Nahar-Eitan, was auf Deutsch so viel wie „Starker Fluss“ bedeutet.

Der stolze Papa mit seinem kleinen Sprössling. Die Liebe zum Kajaksport gibt der liebevolle Familienvater seinen Kindern schon in jungen Jahren weiter. Sie sollen später einmal in die Fußstapfen des tapferen Papas treten. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Gilad Lachiani


Ein Traum wird wahr

Das Rafting und das Kajakfahren dominierten auch das Familienleben des Veteranen. Die meiste Zeit widmete sich Gilad diesem wilden Hobby. Miri erkannte, dass ihr Ehemann als anderer Mensch von seinen Kajaktouren zurück nach Hause kam:Er war beflügelt und glücklich. Das bedrückende Kriegstrauma rückte in weite Ferne. Sie erkannte sofort, dass Gilad sein Leben dem Wasser widmen müsse, um seine seelische Balance beizubehalten. In einem Interview mit Fokus Jerusalem erzählte Gilad, dass ihn seine Ehefrau dazu anhielt, sich etwas Zeit zu nehmen und zu überlegen, wie er das Rafting in seinen Berufsalltag integrieren könne. Zwar hatte Gilad schon immer den Wunsch gehegt, seine Leidenschaft beruflich auszuleben, doch erst der Ansporn seiner Frau brachte den Stein ins Rollen. 

Gilad mit einigen seiner Schüler auf dem Jordan. Das spannende Rafting hilft nicht nur Kinder mit ADHD, sondern selbst posttraumatisch belasteten Personen. Foto: Fokus Jerusalem

Vor etwa vier Jahren erfüllte sich Gilad so einen seiner größten Träume. Mit der Unterstützung seiner Ehefrau ging der Veteran das nächste Lebensprojekt an und gründete zusammen mit seinem jüngeren Bruder Omer eine Kajak- und Raftingschule. Die besondere Schule erhielt den Namen „White Water“. Als besonderes Ziel setzten sich die beiden, den Kajak-Sport für jedermann zugänglich zu machen. Neben dem pädagogischen Element, das Trainingseinheiten für Kinder, Teenager und Schulen beinhaltet, bieten die beiden Geschäftsmänner auch Extrem-Rafting Touren an. Das kleine Familiengeschäft, welches Sport und Spaß miteinander verbindet, entwickelte sich zu einer spannenden Touristenattraktion.

White Waters“ – nicht nur Extremsport

Die Kajakschule der beiden Lachianis erreichte in Israel schnell einen großen Bekanntheitsgrad. Fünf Tage die Woche ist das „White Water“ mit Gruppen restlos ausgebucht. Daher war es nicht überraschend, dass Gilad damit beauftragt wurde, israelische Rettungsteams in Rafting-Notfällen auszubilden. 

Gilad erklärte, dass seine körperliche Verletzung Teil seines Lebens wurde. Obwohl er den Verlust seines Auges angenommen hat, sei der Umgang mit seiner Behinderung ein täglicher Akt der Selbstakzeptanz. Dazu kommen mentale und seelische Schmerzen, mit denen jeder Veteran lernen muss zu leben. Er muss die Kriegstraumata kontrollieren, um nicht von ihnen eingeholt zu werden. In vielen Fällen bedarf es dazu professioneller Hilfe. Gilad fand über die Gewässer einen Weg, mit dem Erlebten umzugehen. Mit seinem Kajak-Unterricht ist er für andere Veteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen eine mentale Stütze.

Heute führt Gilad ausgewählte Rafting-Gruppen rund um den Globus und bezwingt mit ihnen die spannendsten Flüsse der Welt. Die Geschichte des jungen Veteranen ist für die breite Bevölkerung zu einer so großen Inspiration geworden, dass Gilad immer wieder gebeten wird, an Veranstaltungen im ganzen Land teilzunehmen. Der junge, tapfere Mann fand seine Bestimmung nicht nur in seiner kleinen, bezaubernden Familie, sondern auch im Kajakfahren und der Rehabilitation traumatisierter Soldaten.

Für uns ist Gilad ein Held. Statt Umhang trägt er einen Neoprenanzug.

Titelbild: Gilad Lachiani bei seinem beeindruckenden Interview mit Fokus Jerusalem. Er erlaubte dem Team einen tiefen Einblick in seine Welt. Foto: Fokus Jerusalem

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