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Regierung vertagt die umstrittene Justizreform auf die Sommersitzung der Knesset

von Tommy Mueller, Leiter Fokus Jerusalem

JERUSALEM, 27.03.2023 – Die Gesetzgebung zur Justizreform in Israel wird vorerst eingefroren. Sie wird erst in der Sommersitzung der Knesset wieder aufgegriffen. In der Zwischenzeit sollen Verhandlungen über die Reformen stattfinden. Das haben die religiös-nationalistischen Regierungsparteien am Abend bekannt gegeben. Zuvor hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt: Massenproteste legten das Land nahezu komplett lahm.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Sonntag Verteidigungsminister Yoav Gallant gefeuert, weil der „im Interesse der nationalen Sicherheit“ öffentlich gefordert hatte, die Gesetzesänderungen zu verschieben. Seine prompt folgende Entlassung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hunderttausende gingen im ganzen Land auf die Straße. Die Belegschaften von Kindergärten und Universitäten, Einkaufszentren und Krankenhäusern beteiligten sich. Der mächtige Dachverband der Gewerkschaften rief zu einem „historischen“ Generalstreik auf und legte ohne Vorankündigung den internationalen Ben-Gurion-Flughafen lahm. Dort wurden keine Flugzeuge mehr abgefertigt, Tausende Passagiere konnten ihre Reisen nicht antreten. Am Nachmittag schlossen sich israelische Botschaften in aller Welt den Protesten gegen ihre eigene Regierung an und stellten die Arbeit ein. Zuvor hatten bereits Reservisten verschiedener Armee-Einheiten, darunter Kampfpiloten, entschieden, nicht mehr zu freiwilligen Übungseinheiten zu erscheinen.

Netanjahu unter Druck

Regierungschef Netanjahu (73) sah sich plötzlich immensem Druck ausgesetzt. Die religiös-konservative Regierung hat genügend Stimmen, um die Gesetzesänderungen durchzusetzen. Seine Koalitionspartner, allen voran der nationalistischen Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir warnten Netanjahu, er dürfe der „Anarchie der Straße“ keinesfalls nachgeben. Am Abend gab Ben Gvir überraschend bekannt, er stimme der Verzögerung der Gesetzgebung zu. Nach hebräischen Medienberichten hat Netanjahu ihm im Gegenzug versprochen, eine „Nationalgarde“ aufzustellen, die Ben Gvir untersteht.

Die Anti-Regierungs-Demonstranten waren anfangs ein bunter Haufen aus linksliberalen, nicht-religiösen Oppositionellen, Vertretern der LGTB- (lesbisch, schwul, bisexuell und transgender) Gemeinschaft und feiernden Alt-Hippies. Zeitweise hatten ihre Demos den Charakter von Festivals, mit viel Spaß, grellen Kostümen und lauter Musik. Geeint hat die bunte Truppe ihr Hass auf Netanjahu. Aber im Laufe der vergangenen Wochen schwenkte auch ein Teil der „schweigenden Mehrheit“, die Israels dienstältesten Regierungschef gewählt und unterstützt hatte, ins Protestlager über.

Die Opposition witterte ihre Chance, die jüngste Wahlschlappe vergessen zu machen. Sie goss kräftig Öl ins Feuer und beschwor das bevorstehende Ende der Demokratie im Heiligen Land. Demokratisch gewählte Regierungsvertreter wurden als „Faschisten“ und „Nazis“ verunglimpft, ihre Wohnhäuser umstellt, ihre Familien bedroht.

Zu viel Macht für die Richter?

Bei der umstrittenen Justizreform geht es im Kern um zwei Punkte. Künftig soll die Regierung mehr Mitsprache bei der Ernennung der Obersten Richter erhalten. Pro Amtszeit kann sie aber höchstens zwei der 15 Richter neu ernennen, für alle weiteren benötigt sie Unterstützung aus der Opposition. Bisher konnten die Obersten Richter dank einer Justizvertreter-Mehrheit im Ernennungs-Ausschuss dafür sorgen, dass sich an ihrer Zusammensetzung praktisch nichts änderte: ein elitärer, politisch linksorientierter Club aus fast ausschließlich säkularen, europäisch-stämmigen Israelis.

Mitte der 1990er Jahre befand das Oberste Gericht, dass bestimmte Gesetze Verfassungscharakter haben. Es ermächtigte sich selbst, Gesetze für ungültig zu erklären, die diesen „Grundgesetzen“ widersprachen. Danach entschied das Gericht, dass der Generalstaatsanwalt gegen jeden Regierungsbeschluss ein Veto einlegen kann. Für diese Regelung gibt es kein Gesetz, sie ist eine Erfindung der Richter. Die beanspruchten für sich zuletzt sogar eine Mitsprache bei der Ernennung von Ministern. Dass das undemokratisch ist, leuchtete selbst Netanjahu-Kritikern ein.

Problematisch ist jedoch der zweite Teil der Reform. Demnach kann das Parlament, die Knesset, Entscheidungen des Obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit zurückweisen. Da Israel keine zweite Kammer (wie Deutschland den Bundesrat) hat, könnte die Mehrheit damit „durchregieren“. Die jetzige und auch künftige Regierungen wären nicht zu stoppen, wenn sie Gesetze gegen Minderheiten beschließen oder Menschenrechte einschränken. Das wollen viele Israelis, auch solche aus der politischen Mitte, nicht hinnehmen.

Titelbild: Mehr als 70.000 Israelis demonstrierten am Montag vor der Knesset, dem Parlament in Jerusalem. Foto: Yasmine Ouldammar / Fokus Jerusalem

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