
Die Entführten sind zwar zu einem neuen Leben erwacht, doch Ärzte warnen: „Das Lächeln der Befreiten trügt.“
JERUSALEM, 15.10.2025 (NH) – Die letzten zwanzig lebenden israelischen Geiseln sind nach zweijähriger Gefangenschaft in Gaza befreit worden und zu einem neuen Leben erwacht. Unter den Rückkehrern waren sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Sie wurden von den palästinensischen Terrorzellen, die sie festhielten, als israelische Streitkräfte angesehen und daher viel grausameren Bedingungen ausgesetzt als Geiseln, die in früheren Runden freigelassen wurden. Die Entführten berichten von Isolierung, langen Hungerperioden und schwerer Folter. Glücklicherweise befindet sich keiner der Rückkehrer in kritischem Zustand, dennoch werden die Männer in den ersten Wochen von einem multidisziplinären Ärzteteam überwacht. Neben den Medizinern stehen auch Psychologen, Ernährungsberater und Sozialarbeiter für die körperliche und geistige Rehabilitation bereit. Doch wie ist es möglich, dass die Geiseln nach Jahren des Horrors aus eigenen Kräften und mit einem Lächeln in die Freiheit zurückkehren? Experten erklären das Phänomen.
Hormone sorgen für ein Gefühl der Freiheit und Erleichterung
Am Montagmorgen wurden im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Terrorgruppe Hamas 20 lebende Geiseln nach mehr als 739 Tagen menschenunwürdiger Lebensbedingungen in endloser Dunkelheit, entsetzlichem Hunger und Durst, Infektionen und grausamer Folter aus Gaza befreit. Die Männer waren am 7. Oktober 2023 von Terrorzellen in die Enklave verschleppt worden und wurden seitdem als lebende Joker und Druckmittel in unterirdischen Tunnelsystemen festgehalten. Dennoch wirkten die Männer relativ gut gelaunt, standen auf eigenen Beinen und konnten sogar ein Lächeln zeigen.
Doch Experten warnen: Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung erlebten die glücklich strahlenden Rückkehrer einen hormonellen Sturm, der die Traumata und die körperliche Krise durch ein Gefühl von Freiheit und Erleichterung ersetzt. Der gestresste und gefolterte Körper reagiert auf die enorme Gefühlsstimulierung mit einer massiven Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Dopamin und Serotonin, die ein euphorisches „Hoch” vortäuschen. Die Geiseln, die in einer Art „Überlebensmodus” lebten, erscheinen durch den Hormonschub energetisch, wach und stark, obwohl der Körper erschöpft ist.

Entführte sind schweren physiologischen Schäden ausgesetzt
Ärzte warnen daher, dass die befreiten Geiseln trotz ihres Lächelns und aufrechten Stehens schwere körperliche Folgen aufzeigen können. Eine lange Periode extremen Hungers führt nicht nur zum Verlust von Fett und Muskeln, sondern auch zur Erschöpfung essenzieller Proteine und Mineralien. Infolgedessen werden die Muskeln als Energiequelle genutzt. Dieser Prozess führt zu einem Zustand des Katabolismus, bei dem Körpergewebe für das Überleben abgebaut wird. Die Entführten sind so beispielsweise lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen ausgesetzt.
Einer der bedeutendsten Defizite ist der Vitamin-D-Mangel. Vitamin D ist eines der wichtigsten Vitamine im menschlichen Körper und spielt eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der Knochenstärke, des Immunsystems und des Kalzium- und Phosphorspiegels im Blut. Sinkt der Kalziumspiegel im Blut, „zieht” der Körper, was er benötigt, aus den Knochenspeichern, um die Muskel- und Nervenfunktion aufrechtzuerhalten. Mögliche Folgen sind schwache Knochen, chronische Schmerzen in Rücken und Gliedmaßen, sowie vermehrte Knochenbrüche bereits bei leichten Anstrengungen. Dieser Zustand wird bei Erwachsenen als „Osteomalazie” bezeichnet.
Ein Vitamin-D- und Vitamin-B-Mangel sind lebensgefährlich
Vitamin D wird auf natürliche Weise über Sonneneinstrahlung, insbesondere UVB-Strahlen, auf der menschlichen Haut produziert. Es ist aber auch in tierischen Lebensmitteln wie Fisch, Eiern und Milchprodukten enthalten. Die meisten Geiseln wurden in unterirdischen Tunneln festgehalten, waren nicht der Sonne ausgesetzt und erhielten keine vitaminreiche Nahrung. Infolgedessen sank ihr Vitamin-D-Spiegel dramatisch, was die komplexen physiologischen Schäden verursachen kann. Auch mit Schäden des Nervensystems durch einen anhaltenden Mangel an B-Vitaminen, die für die ordnungsgemäße Funktion des Gehirns unerlässlich sind, ist zu rechnen. Ein Vitaminmangel kann zu Gedächtnisproblemen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Entscheidungsfindungsproblemen führen. Trotz der sogenannten Freudenhormone ist der Körper somit nicht in der Lage, die entstandenen Hirnschäden zu reparieren.
Das Gesundheitsministerium betont, das gesamte Personal der Abteilungen für Innere Medizin, der Intensivstationen sowie der Ernährungsabteilungen sei geschult worden, um entsprechende Syndrome frühzeitig zu erkennen und nach einem aktualisierten Protokoll zu handeln.
Titelbild: Am 13. Oktober 2025 kommt der freigelassene Geisel Evyatar David im Beilinson-Krankenhaus an. Experten warnen jedoch vor einem trügerischen, euphorischen Hormon-Hoch. Foto: Yossi Aloni/Flash90