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Helden ohne Umhang (11): Odai Bsoul – der arabische Sanitäter, der zwei Menschen rettet

von Nadine Haim Gani

NAZARETH, 02.07.2021 – Shiran Duhan hat ihren Armeedienst beendet. Anders als die jungen Frauen in ihrem Alter, die ihre zurückgewonnene Freiheit für einige Zeit im Ausland genießen, sucht die 20-Jährige nach einem neuen Job. Mit dem Gehalt möchte sie ihr zukünftiges Studium bezahlen. Shiran findet Arbeit in einem Bekleidungsgeschäft. Die junge Frau arbeitet hart. Ihre Schicht dauert von 7 bis 18 Uhr.

Das feierliche jüdische Lichterfest Chanukka hat gerade begonnen. An diesem Abend wird die erste Kerze am achtarmigen Leuchter angezündet. Noch ahnt niemand, wie sich Shirans Leben binnen Stunden radikal verändern wird.

Unbemerkte Schwangerschaft 

Shiran tritt ihre Schicht an. Der Laden ist noch geschlossen und Shiran überkommt das grausame Gefühl zu ersticken. Das Parfüm ihrer Arbeitskollegin lässt Shiran nach Luft schnappen. Der Ohnmacht nahe verlässt sie das Geschäft und ruft ihre Mutter Elena an. Als sie ihr schildert, wie schwer der Duft des Parfüms ihr zusetzt, ist ihrer Mutter sofort klar, dass ihre Tochter schwanger sein müsse. Als Elena sie mit ihrer Annahme konfrontiert, lacht Shiran sie nur aus. Sie habe ihre Menstruation regelmäßig und es gäbe keinen Grund zu dieser verrückten Vermutung. Shiran gab zwar zu, in den vergangenen Wochen etwas zugenommen zu haben und mit ständiger Müdigkeit zu kämpfen, doch schiebt sie das auf die anstrengende Zeit in der Armee und das gute Essen. Doch ihre Mutter lässt nicht locker. Sie bringt einen Schwangerschaftstest mit nach Hause. Minuten später bricht Shiran schockiert in Tränen aus. Der Test ist positiv. Ihre Mutter schließt sie in die Arme und verspricht, sie zu unterstützen, egal wie ihre Entscheidung ausfallen sollte. Die Frauen sind sich sicher, dass es sich um eine Schwangerschaft in der Anfangsphase handelt.

Shiran sucht ihre Gynäkologin Dr. Liana Pazenkin auf, mit dem Gedanken, die ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Ein Ultraschall soll den Fortschritt der Schwangerschaft klären. Doch dann der Schock: Auf dem Monitor ist ein kleines Babygesicht zu erkennen. Alle drei Frauen sind bestürzt: Shiran befindet sich am Ende des siebten Schwangerschaftsmonats. Dr. Pazenkin überbringt der werdenden Mutter die Botschaft, dass sie einen kleinen, gesunden Jungen erwartet.

Shiran freut sich auf ihren kleinen Jungen

Die Gynäkologin erklärt, dass in seltenen Fällen Blutungen während der Schwangerschaft auftreten können. Die werdenden Mütter sind der Annahme, es handele sich um ihren monatlichen Zyklus, und blenden andere Symptome aus. Doch auch Shirans Frauenärztin ist überrascht, dass Shiran bis jetzt nicht bemerkt hat, dass in ihr ein neues Leben heranwächst. Schnell erholt sich Shiran von dem anfänglichen Schock und entscheidet sich für das Leben ihres kleinen ungeborenen Sohnes. Sie hofft anfänglich auf die Hilfe ihres Lebenspartners und Vater des Ungeborenen. Aber schnell ist klar, dass Shiran das kleine Leben allein großziehen muss. Ihre liebenden Eltern versichern, für sie und den kleinen Enkel da zu sein. In Windeseile wird das zukünftige Zimmer für den kommenden Sprössling geplant und die werdenden Großeltern suchen nach passenden Namen. Als die letzte Chanukka-Kerze leuchtet, betet Elena für die Gesundheit ihrer Tochter und ihres ungeborenen Enkels.

Der große Traum eines kleinen arabischen Jungen

Zur gleichen Zeit weist Odai Bsoul sein Team ein. Das ungute Gefühl, dass sich heute in seiner Schicht etwas Schlimmes zutragen wird, lässt den muslimischen Sanitäter nicht los.

Odai Bsoul erlebte als 13-Jähriger ein Trauma, dass ihn schon früh die Entscheidung treffen lässt, dem israelischen Sanitätsdienst „Magen David Adom“ beizutreten und Leben zu retten. Der Junge musste hilflos mit ansehen, wie sein geliebter Vater einen Herzinfarkt erlitt. Er erinnert sich, wie sein Vater bewusstlos am Boden lag und nach Luft rang. Seine Mutter rief den Notdienst von „Magen David Adom“. Der Junge konnte damals noch nicht die ganze Situation erfassen, doch für ihn waren die beiden Sanitäter, die kurze Zeit später eintrafen und um das Leben seines Vaters kämpften, Engel auf Erden. Dank ihnen konnte sein Vater gerettet werden. Für Odai war klar, dass auch er ein solcher Engel werden möchte. Seit dem Vorfall träumte er nur noch von der Uniform der Sanitäter.

Bedenkliche Werte

Shiran erhält einen Anruf von Dr. Pazenkin. Sie erklärt ihr, dass die Proteinwerte in ihrer Urinprobe bedenklich seien und bittet sie, umgehend in der Praxis vorbeizukommen. Shiran macht sich sofort auf den Weg zu ihrer Ärztin. Dort angekommen, wird sie ins Untersuchungszimmer geführt. Ihr Blutdruck ist außergewöhnlich hoch. Die Ärztin fragt nach ihrem Wohlbefinden, doch kaum hat sie die Frage ausgesprochen, verliert Shiran die Sehkraft auf ihrem linken Auge. Der Gynäkologin wird augenblicklich klar, dass es sich um eine lebensgefährliche Präeklampsie handelt. Eine Präeklampsie oder umgangssprachlich Schwangerschaftsvergiftung, die in einem solchen Maße ausbricht wie bei Shiran, kann zu Organversagen und letztendlich zum Tod der Schwangeren und ihres ungeborenen Kindes führen. 

Das Ungeborene wird zur Zeitbombe

Fünf Minuten später trifft Odai Bsoul mit seinem Rettungsteam ein. Er erkennt sofort, dass Shiran in akuter Lebensgefahr schwebt. Die werdende Mutter wird immer teilnahmsloser und ist kaum noch ansprechbar. Dem Sanitäter ist klar, dass er Shiran so schnell wie möglich in den OP bringen muss, um ihr Leben zu retten. Solange sich das Ungeborene in Shirans Körper befindet, stellt es für seine Mutter eine tickende Zeitbombe dar.

Das Team bringt Shiran zum Rettungswagen und steuert das „Emek“-Krankenhaus in Afula an. Eine nervenzerreißende Fahrt von 20 Minuten beginnt. Odai muss Shiran bei Bewusstsein halten, um sie nicht zu verlieren. Die junge Frau, die erst vor ein paar Tagen erfahren hat, dass sie schwanger ist, liegt nun da und kämpft um ihr Leben. Er versucht Ruhe zu bewahren, doch die Angst, zwei Leben binnen von Minuten zu verlieren, zerreißt den jungen Araber.

Wessen Leben sollen wir retten?“

Ein Krampfanfall erfasst die Schwangere, sie verliert das Bewusstsein. Odai ruft verzweifelt „Wir verlieren Sie!“. Shiran wird blau. Die Herztöne auf dem Monitor werden schwächer. Er weiß, dass sich Shiran kurz vor einem Herzstillstand befindet. Der gefürchtete langgezogene Ton des Herzmonitors erfüllt den Krankenwagen. Ihr Herz hört auf zu schlagen, doch das Krankenhaus ist noch weit entfernt. Odai fordert den Fahrer auf, den Rettungswagen zu stoppen, um mit der Wiederbelebung der jungen Frau zu beginnen. Er weiß, dass er um zwei Menschenleben kämpfen muss. Eine Wiederbelebung mit Stromschlägen und Adrenalinspritzen kommt nicht in Frage. Das Risiko, dem ungeborenen Kind zu schaden, ist zu hoch. Ein grausames Dilemma erfasst die Sanitäter: „Wessen Leben sollen wir retten?“. Sie können die Fahrt ins Krankenhaus fortsetzen, um dort mit einem Notkaiserschnitt das Leben des kleinen Jungen zu retten. Oder sie setzen die Wiederbelebung fort und tun trotz der schlechten Prognosen alles, um das Leben von Mutter und Kind zu retten.

Shiran ist klinisch tot 

Professor Raid Salim, leitender Chefarzt der Geburtsstation im Emek-Krankenhaus, erklärt später in einem Interview, dass die Chancen, eine werdende Mutter zu retten, die vor der Geburt einen Herzstillstand erleidet, sehr gering sind.

Trotz der geringen Chancen, Shiran zurück ins Leben zu bringen, weigert sich Odai, den Kampf aufzugeben. Er entscheidet, die Fahrt ins Krankenhaus zu unterbrechen und die Wiederbelebung fortzusetzen. Er stellt die Stoppuhr an seinem Handy und erklärt seinem Team, dass sie genau sechs Minuten lang um Shirans Leben kämpfen werden. Nach dieser Zeit entstehen bei den Patienten bereits Hirnschäden. Von diesem Punkt an gibt es kein zurück. Odai versucht mit allen Mitteln, Shirans Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Nach vier Minuten gilt die werdende Mutter als klinisch tot. Odai erzählt, dass er innerlich spürte, wie er dem Todesengel gegenüber sitzt und mit ihm Arme drückt. Es kommt für ihn nicht in Frage, diese Runde zu verlieren. Er spürt, wie ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. Doch der Sanitäter kämpft weiter. Noch immer sind keine Herztöne über den Monitor zu vernehmen. Es bleiben wenige Sekunden übrig, bis das Rettungsteam den Kampf um Shiran aufgeben muss, um zu versuchen, den Säugling zu retten. Das Handy piept. Die sechs Minuten, die sich für die Sanitäter wie eine Ewigkeit anfühlten, sind vorbei, doch noch immer sind keine Herztöne zu hören. Odai entscheidet sich, die Wiederbelebungsversuche dennoch für einige weitere Sekunden fortzuführen.

Sanitäter Odai in der Uniform des Rettungsdienstes Magen David Adom. Foto: privat

Plötzlich zeigt sich ein Herzton am Monitor. Die erste Annahme der Sanitäter ist, dass es sich dabei um einen technischen Fehler handelt. Odai spürt mit seiner Hand an Shirans Hals einen schwachen Puls. Die Sanitäter beleben Shiran mit vereinten Kräften weiter und die Herztöne verstärken sich. Odai spürt, dass er diese Runde im Armdrücken mit dem Tod gewinnen wird. Nach ein paar Sekunden steigt der Blutdruck auf 120. Shiran ist zurück. Odai atmet tief durch. Die Sanitäter schauen sich in die Augen und lachen: „Sie ist wieder unter uns!“.

Die Ärzte kämpfen weiter

Als der Krankenwagen in der Notaufnahme ankommt, ist das dortige Personal schockiert. Shiran schwebt zwar immer noch in akuter Lebensgefahr, doch ist sie gegen jede Prognose am Leben. Professor Salim ist fassungslos. Sie hatten sich auf das Schlimmste vorbereitet und waren sich sicher, dass sie eine tote Schwangere empfangen werden. Odai erklärt in einem Interview: „Shiran war klinisch tot. Sie verließ unsere Welt für einige lange Minuten. Gott hat sie berührt und zu uns zurückgeschickt.“

Aber es ist noch zu früh, Shirans Rückkehr zu feiern. Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Sie schwebt immer noch zwischen Leben und Tod. Die behandelnden Ärzte wissen auch nicht, wie es um das Baby steht. Shiran wird sofort einer Notoperation unterzogen. Die Ärzte wollen das Leben beider Patienten retten. Die seltene Situation erweist sich als äußerst kompliziert. Die größte Sorge der Mediziner ist, dass Shiran und ihr Ungeborenes bleibende Schäden davon getragen haben.

Shirans Mutter Elena betet unaufhörlich für ein Wunder. Sie fleht, dass ihre beiden Schätze die traumatischen Ereignisse gesund überleben. Sie ist sich im Klaren darüber, dass die Chancen schlecht stehen und die Ärzte damit rechnen, beide Patienten zu verlieren. Aber Elena will an ein Wunder glauben. Nach langen Minuten öffnet sich die Tür zum Operationssaal und die Ärzte schieben der werdenden Großmutter lächelnd einen Inkubator entgegen. „Masal tov! Sie sind Oma geworden!“. Im Inkubator liegt ein kleiner, gesunder Junge.

Shirans Schicksal hängt an einem seidenen Faden. Zwar konnte ihr Baby gerettet werden, doch wissen die Ärzte nicht, ob Shiran die schwere Präeklampsie überlebt. Sie wird an ein Sauerstoffgerät angeschlossen. Ihre Familie wird darauf vorbereitet, dass sie bleibende Schäden davon getragen hat.

Es ist ein Wunder“

Shiran erwacht. Als sie um sich blickt, erkennt sie weitere Patienten in ihrem Zimmer. Sie ist verwirrt und benommen. Eine Krankenschwester erklärt ihr vorsichtig, dass sie einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hat, der auf der Frühchenstation behandelt wird. Als die Krankenschwester das Zimmer verlässt, erkennt Shiran ihre Mutter auf dem Flur und kann sich zu einem schwachen Winken aufraffen. Die frischgebackene Oma kann ihr Glück kaum fassen. Ihre Tochter ist wach.

Die Ärzte sind überwältigt. Trotz allem hat Shiran keine bleibenden Schäden erlitten. Die junge Frau, die noch nicht einmal Zeit hatte, sich mit der überraschenden Schwangerschaft anzufreunden, darf sich „Mama“ nennen. Elena zeigt ihrer Tochter Videos von dem süßen Zuwachs. Shiran kann nicht fassen, dass der Junge auf den Fotos ihr Fleisch und Blut ist. Das erwartete sofortige Mutterglück bleibt aus. Die Ängste, weder die Schwangerschaft noch die Geburt erlebt zu haben und darum keine Beziehung zu dem Neugeborenen entwickeln zu können, übermannen die junge Frau. Doch als die Krankenschwestern Shiran zum ersten Mal den Kleinen in die Arme legen, brechen alle Emotionen aus der jungen Mutter heraus. Sie spürt sofort „Das ist mein Kleines!“. Es ist Liebe auf den ersten Blick. „Das süßeste, schönste Baby ist mein Kleiner!“, erklärt Shiran: „Das ist mein Kind!“

Endlich kann die Familie aufatmen. Das Wunder, für das Mutter Elena gebetet hatte, ist eingetroffen. Shiran und ihr Baby sind gesund. Odai schaffte das Unmögliche und rettet beiden das Leben. Alle sind sich sicher: Was sich vor ihren Augen abgespielt hat, ist ein Eingreifen Gottes. 

Odai sitzt lange Minuten alleine vor seinem Rettungswagen. Dann greift er zu seinem Handy und wählt die Nummer seiner Mutter: „Mama, ich habe heute Leben gerettet.“. 

Manchmal tragen Helden keinen Umhang, sondern eine Sanitäter-Uniform!

Titelbild: Odai vor den Rettungswagen von Magen David Adom. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Odai. Quelle: Privat 

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