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Helden ohne Umhang (12): Abraham Sinai – Der libanesische Spion, der zum Rabbi wurde

von Nadine Haim-Gani

ZFAT, 16.07.2021 – Hätte ein Drehbuchautor die Geschichte von Ibrahim Yassin veröffentlicht, hätte man den Film als surreal abgetan. Aber der junge Libanese, der innerhalb der Hisbollah für Israel spionierte, Dutzende Anschläge verhindern konnte und am Ende zum Judentum konvertierte, ist eine reale Person: Abraham Sinai.

Außer seinem Akzent erinnert heute an Rabbi Sinai nichts mehr an seine Vergangenheit. Er wurde als muslimischer Schiit unter dem Namen Ibrahim Yassin im Süden des Libanon geboren. Er wuchs in einer reichen Familie auf, die enge Kontakte zur Regierung pflegte.

Die Situation änderte sich dramatisch, als 1975 der Bürgerkrieg im Libanon ausbrach. Die Regierung wurde gestürzt. Die Macht in verschiedenen Dörfern im Süden des Landes ging an palästinensische sunnitische Flüchtlinge über. Die meisten Dorfbewohner schlossen sich den neuen Machthabern und deren Terrorkämpfern an. Waffen wurden an kleine Kinder verteilt, brutale Gewalt regierte die Region. Als Minderheit wurden die libanesischen Schiiten unterdrückt. Gewaltexzesse und Diebstahl ihres Hab und Guts waren an der Tagesordnung.

Israel marschiert im Libanon ein

Der achtjährige Ibrahim war gerne bei den Schafherden seines Vaters. Insgesamt 1500 Schafe nannte die Familie ihr eigen. Ibrahims Vater hatte seinem Sohn ein kleines Schäfchen geschenkt, das der Junge hegte und pflegte. Sogar sein Mittagessen teilte der kleine Hirte mit seinem geliebten Schaf. Auf der Weide lauerte ein palästinensischer Terrorist dem kleinen Jungen auf und verlangte von Ibrahim, ihm eines der Schafe zum Schächten auszuhändigen. Der Palästinenser erkannte die Liebe des kleinen Jungen zu seinem Schäfchen und erschoss das Tier. Unter Tränen nahm Ibrahim sein totes Schaf auf die Schultern und brachte es zu sich nach Hause. Die Boshaftigkeit des Täters brannte sich tief in das Herz des kleinen Jungen.

Das Eintreffen israelischer Streitmächte zur Zeit des Libanonkrieges im Juni 1982 wurde von den unterdrückten Sunniten als göttlicher Segen angesehen. Die israelische Armee versuchte gegen den Terror der Palästinenserflüchtlinge in der Region vorzugehen. Ibrahim und seine Familie sahen in den israelischen Soldaten die Erlösung aus der Macht der gnadenlosen Sunniten.

Zum ersten Mal im Leben geachtet

Mit 18 war Ibrahim bereits verheiratet. Die kleine Familie erwartete ihr erstes Kind. Seine Frau lag in den Wehen, doch die Geburt wollte nicht vorangehen. Ibrahim war nicht zu Hause, sondern hütete die Schafherden auf den Feldern. Die Frauen der Familie bestiegen das Dach des Hauses. Sie winkten und riefen einem israelischen Armeekonvoi zu, der in der Nähe des Dorfes patrouillierte.

Oberleutnant Zachi Bareket war auf dem Weg zurück von Beirut. Er hörte die Hilferufe. Zunächst war er sich nicht sicher, ob es sich um eine Falle palästinensischer Terroristen handelte. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Frauen seine Hilfe brauchen. Er verließ gegen die Vorschriften die gesicherte Route und wies seine Soldaten an, ihre Gewehre zu entsichern, falls es sich doch um eine Falle handeln sollte. Sie parkten ihre Armeejeeps einige Meter vor dem Dorfeingang und gingen zu Fuß ins Dorf. Eine ältere Frau rannte den Soldaten entgegen und schilderte auf Arabisch die Notlage. Zachi hatte Erfahrung mit Geburten: In seiner Jugendzeit im Kibbuz half er seinem Vater bei der Kuhzucht. Er zögerte keinen Augenblick. Kurz darauf war ein gesunder Junge geboren. Zachi bat über Funk Doktor Hanan, der sich auf einem Armeestützpunkt in Israel befand, um Hilfe bezüglich der Nabelschnur. Der Armeearzt bestieg persönlich mit einer Krankenschwester einen Helikopter und eilt dem Neugeborenen und seiner Mutter zu Hilfe.

Vom Schafhirte zum Spion

Als Ibrahim am Abend nach Hause kam, berichtete ihm das ganze Dorf aufgeregt, dass er Vater geworden ist. Seine Frau und das neugeborene Baby seien zur Vorsorge jedoch nach Israel geflogen worden. Ibrahim und seine Familie waren überwältigt von der Nächstenliebe, die ihnen Israel entgegenbrachte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlten sie, dass ihr Leben geschätzt wurde. Ibrahim fühlte sich von den israelischen Soldaten beschützt.

Ibrahim, der mit Leib und Seele Schafhirte war, kannte das Gebiet im südlichen Libanon besser als jeder andere. Er begann, in den umliegenden Dörfern Informationen für die israelische Armee zu sammeln. Er wurde von den israelischen Offizieren mit viel Respekt behandelt, was den jungen Muslim anspornte, für die israelischen Streitkräfte als Spion zu arbeiten. Bezahlt wurde er für seine Informationen nicht. Ibrahim war glücklich, dass Israel seine Dienste annahm, die Terroristen in der Umgebung verjagte und für Ruhe und Frieden in seinem Dorf sorgte.

Die Hisbollah kommt an die Macht

Doch in diesen Tagen trat eine dritte Kraft auf. Die schiitische, fundamentalistische Hisbollah übernahm die Macht im Süden Libanons und füllte das Vakuum, das die Flucht der palästinensischen Terroristen hinterlassen hatte. Die Radikalen setzten es sich zum Ziel, die israelischen Streitkräfte aus dem Libanon zu vertreiben und das Land von Verrätern, die mit Israel zusammenarbeiteten, zu säubern. 

Die israelische Armee marschiert im Libanon ein. Foto: Yossi Zamir/Flash90

Soldaten der Hisbollah stellten Ibrahim in seinem eigenen Haus eine Falle. Sein Vater und zwei seiner Brüder hielten sich auf den Feldern auf. So war Ibrahim den Terroristen schutzlos ausgeliefert. Er kam mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm nach Hause. Auf der Terrasse erwarteten ihn bereits die bewaffneten Hisbollah-Kämpfer. Er erkannte den Ernst der Lage und hielt den Kleinen an der Hand, der gerade das Laufen gelernt hatte. Einer der Terroristen versetzte dem Kleinkind einen erbarmungslosen Tritt. Der Junge knallte gegen die drei Meter entfernte Hauswand. Ibrahim wurde betäubt und erwachte in einem unterirdischen Bunker.

Monatelange Folter

Täglich wurde der angebliche Verräter gequält. Ibrahim verlor vor Schmerzen immer wieder das Bewusstsein. Einer seiner schlimmsten Peiniger war Imad Mughniyah, der selbst ernannte Stabschef der Hisbollah. Täglich suchte der Peiniger Ibrahim in seinem Bunker auf. Schon von Weitem konnte Ibrahim seine Schritte hören. 

Mughniyah drohte Ibrahim mit der Hinrichtung vor allen Dorfbewohnern. Dennoch weigerte sich der Hirte, Informationen über seine israelischen Kontakte herauszugeben. Immer wieder wiederholte er nur einen Satz: „Was wollt ihr von mir, ich weiß nichts.“

Nach Monaten der Tortur unternahmen die Terroristen einen letzten Versuch, Ibrahim zum Sprechen zu bewegen. Sie brachten ihn an die Erdoberfläche. Dort angekommen, sah Ibrahim seinen jüngeren Sohn, neun Monate alt. Er lag auf einer Decke zwischen den Hisbollah-Soldaten. Ibrahim solle guten Willen zeigen und sie würden ihm entgegenkommen, versprachen sie. Der geschundene Mann war davor zu zerbrechen. Um sein geliebtes Kind zu schützen, war er bereit, die Israelis zu verraten. Doch Ibrahim kam nicht dazu, sein Wissen preiszugeben. Ein Hisbollah-Soldat schüttete Benzin über das wehrlose Baby und zündete es an. Das Kind verbrannte bei lebendigem Leib vor den Augen seines Vaters.

Ibrahim versucht sich das Leben zu nehmen 

Ibrahim wurde zurück in seinen Bunker gebracht. Der traumatisierte Vater versuchte mehrfach, sich das Leben zu nehmen. Er flehte auf den Knien zu Gott und bat um seinen Tod. Ibrahim erzählte, dass er keine Tränen mehr hatte. Blut rollte über seine Wangen.

Wenige Tage später kam Ibrahim frei. Seine Familie organisierte mit der Hilfe einiger angesehener Scheichs eine sogenannte „Sulcha“, ein Versöhnungstreffen mit hochrangigen Führern der Hisbollah. Nach einem Jahr Gefangenschaft verließ Ibrahim als gebrochener Mann den Terrorbunker.

Er schottete sich von der Außenwelt ab. Die Bilder seines brennenden Babys ließen den Mann nicht los. Warum ließ Gott es zu, dass sein unschuldiges Kind auf so grausame Weise von dieser Welt gehen musste? Ibrahims Vater wollte seinen Sohn zurück ins Leben führen. Er nahm ihn mit auf die Weide zu seinen geliebten Schafherden. Die äußerlichen Verletzungen Ibrahims heilten, doch die seelischen Wunden blieben tief.

Einer der besten Spione Israels 

Ibrahim suchte nach Antworten und fing an, die Moschee zu besuchen. Immer wieder traf er dort auf seine Peiniger. Sein Wunsch nach Rache wuchs. Er wollte sich an jeder einzelnen Person rächen, die für das unsagbare Leid verantwortlich war, das man ihm und seiner Familie angetan hatte. Ibrahim entschied sich, wieder mit Israel zu kooperieren. Er suchte die Nähe zu den Hisbollah-Soldaten und knüpfte Freundschaften. Er wurde zum Offizier befördert und hatte so die Möglichkeit, Informationen aus erster Hand zu sammeln und seinen israelischen Vorgesetzten zu überbringen. Ibrahim entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem angesehenen Hisbollah-Terroristen. Die jährlichen blutigen „Aschura-Märsche“ mit Selbstgeisselungen wurden von Ibrahim angeführt. Seine angebliche wachsende Erkenntnis des Islam verhalf ihm zu größter Anerkennung.

Eines Abends treffen sich hochrangige Hisbollah-Mitglieder in Ibrahims Haus. Sie tüftelten einen Plan aus, um am nächsten Tag ein Attentat auf einen Armeestützpunkt nahe der israelischen Grenze zu verüben. Ibrahim brach noch in der Nacht zu Fuß auf. Er musste rechtzeitig den Stützpunkt erreichen, der sich in einer Entfernung von 60 Kilometern befand. Voller Angst hielt er inne und betete. Er bat Gott um Schutz. Sollte es sein Willen sein, dass er die Israelis rechtzeitig warne, so möge er ihm den Weg ebnen. Binnen einiger Stunden erreichte Ibrahim den Stützpunkt.

Die israelischen Offiziere nehmen Ibrahim in den Arm. Mit Tränen in den Augen fragten sie Ibrahim, ob er nicht fürchte, dass auch der Rest seiner Familie in Brand gesteckt wird? Doch selbst das hielt Ibrahim nicht davon ab, endgültig in den Geheimdienst der israelischen Armee einzutreten. Er wurde zu einem der effizientesten und bestbezahlten Spione der israelischen Streitkräfte. Generalmajor Yoav Mordechai berichtete später dem israelischen Fernsehen, dass Ibrahim einer der besten Spionage-und Geheimagenten Israels war, wenn nicht sogar der Herausstechendste weltweit. Es war Ibrahim und seinen israelischen Kollegen bewusst, dass jede Mission die Letzte sein könnte und er nicht lebend nach Hause zurückkehren würde.

Abbas al-Musawi wird zur Zielscheibe

Einige Monate später tauchte ein neues Ziel auf: Abbas al-Musawi. Ein hochrangiger Hisbollah-Führer, der sich darauf spezialisiert hatte, mit flammenden Reden die Jugend im Libanon für die Terrororganisation zu rekrutieren. Seine Hassreden in den Moscheen, die Jugendliche zum Kampf gegen Juden aufhetzten, beunruhigten den israelischen Geheimdienst zutiefst. Ibrahim suchte die Freundschaft mit al-Musawi, und der schluckte den Köder. Ibrahim war bald wie ein Bruder des Top-Terroristen. Selbst die Information, wann al-Musawi sein Mittagessen einnahm und welche Kleidung er unter seinem Kaftan trug, konnte Ibrahim an den israelischen Geheimdienst weitergeben. 

Nach einigen Monaten kam der Tag, auf den alle gewartet hatten. Al-Musawi verließ das Dorf, um an einer Beerdigung teilzunehmen. In einem Autokonvoi fuhr er in Richtung Amman. Ibrahim war sein Fahrer. Der wusste genau, dass sein Auto das Ziel der israelischen Luftwaffe war. Doch Ibrahim vertraute auf göttliche Führung. Die Erlaubnis des damaligen israelischen Staatsoberhauptes Itzhak Schamir, der die Tötung des Terroristen genehmigen musste, erreichte das Hauptquartier des Geheimdienstes verspätet. Diese Verspätung rettete Ibrahim das Leben. Der misstrauische Abbas al-Musawi wechselte im letzten Augenblick das Fahrzeug. Nur wenige Minuten später traf eine israelische Rakete sein Auto und tötete ihn, seine Frau und ihren Sohn.

Itzhak Shamir erlaubt die Tötung al-Musawis mit den Worten: „Erschießt ihn!“.
Foto: Moshe Shai/Flash90

Durch seinen Einsatz über zwei Jahrzehnte hinweg rettete Ibrahim Dutzende israelische Soldaten und Zivilisten, vereitelte unzähige Terrorattacken und half bei der Exekution hochrangiger Hisbollah-Anführer. In einem Interview mit dem israelischen Fernsehen erklärt er später stolz: „Es gibt niemand, der versuchte Hand an uns (die Israelis) zu legen und am Leben blieb!“

Flucht nach Israel

Anfang der 90er-Jahre begannen Hisbollah-Offiziere Verdacht zu schöpfen. Ibrahim spürte, wie die Erde unter seinen Füßen brannte. Er erhielt die Nachricht, dass er von einem Schafhirten bei einem Treffen mit israelischen Soldaten gesehen wurde. Nicht nur Ibrahim war in Lebensgefahr, sondern seine ganze Familie. Da es im Süden des Libanon zum damaligen Zeitpunkt keine Flughäfen gab, war es an der Tagesordnung, dass libanesische Touristen den israelischen Flughafen in Tel Aviv nutzten. Ibrahim packte sein gesamtes Hab und Gut und erklärte seinen Eltern und Geschwistern, dass er und seine Familie einen Urlaub in der Schweiz gebucht hätten. Sie verabschiedeten sich von ihren Angehörigen. Ibrahims Schwiegervater trat an das Fahrzeug und bat ihn, sich von der Schweiz aus zu melden. Ibrahim erzählte ihm die Wahrheit und eröffnete ihm, dass er aus Sicherheitsgründen den Libanon verlassen müsse und nicht zurückkehren werde. Nach langen Schweigeminuten sagte sein Schwiegervater: „Gott hat euch auserwählt, Teil seines Volkes zu werden. Gute Fahrt.“

Ibrahim wurde an der Grenze vom israelischen Geheimdienst erwartet. Zunächst wurde seine Familie auf zwei Autos verteilt, da die Gesetze in Israel sieben Personen in einem Fahrzeug verboten. Die Familie fand ihre erste Unterkunft in der nördlichen Stadt Zfat. Dort begann Ibrahim seinen Traum auszuleben, der in seinem Herzen schon vor Jahren gereift war. Er begann mit seinen jüdischen Nachbarn in der Synagoge zu beten und konvertierte zum Judentum. Aus Ibrahim Yassin wurde Abraham Sinai.

Die religiöse Gemeindschaft in Zfat nahm den Neuankömmling aus dem Libanon mit offenen Armen bei sich auf. Foto: Haim Azulay/Flash90

Abraham erinnerte sich an die Monate im Bunker der Hisbollah, als er zu Gott flehte und ihn fragte, warum er ihn mit Gewalt am Leben erhielt: „Warum beschützt du mich?“. Er verstand bereits zu diesem Zeitpunkt, dass eine göttliche Hand über ihn wachte. In der Hisbollah-Gefangenschaft hatte er einen Traum: Er sah sich selbst, wie er und seine Ehefrau ein altes Wohnhaus betraten. In der Wohnung saßen drei Rabbiner. An der rechten Wand befand sich ein Regal mit religiösen Büchern. Er nahm eines der Bücher in die Hand und wandte sich an seine Frau: „Das ist die Schrift, die wir suchen.“

Titelbild: Rabbi Abraham Sinai bei sich zu Hause in Zfat. Foto: Mit freundlicher Erlaubnis von Abraham Sinai. Quelle: Privat

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