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“Mama und Carmel sind tot! Ich will nicht sterben, bitte kommt schnell” – Tagebuchauszug eines Mädchens während des Massakers von Be’eri

JERUSALEM, 25.03.2024 (NH) – Der 7. Oktober ist einer der traurigsten Tage in der Geschichte der israelischen Nation. Mehr als 3.000 Terroristen überfluteten den Süden des Landes und richteten in Grenzgemeinden, Armeestützpunkten und auf Festlichkeiten ein barbarisches Blutbad an. 1.200 Menschen wurden ermordet, Tausende verletzt, weitere 253 als Geiseln nach Gaza verschleppt.

Hadar Baher verlor bei der Terrorinvasion ihre Mutter (48) und ihren Bruder (15). In ihrem Tagebuchauszug erzählt die 13-Jährige über die Erlebnisse des Schwarzen Schabbat.

Hadar, 13, Kibbuz Be’eri

“Mein Name ist Hadar, ich bin 13 Jahre alt, ich lebe im Kibbuz Be’eri. Am Samstag um 6.30 Uhr morgens hörten wir unglaublich viele Explosionen. Wir gingen so wie immer in den sicheren Raum. Zu Hause waren mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Carmel und ich. Einer meiner Brüder, Nofar, war zu diesem Zeitpunkt in der Armee, er hatte Wachdienst in Hebron, und unser älterer Bruder Rotem war in Indien im Urlaub.

Wir spürten sehr, sehr schnell, dass hier etwas nicht stimmte, es war sehr ungewöhnlich. So viele Raketen in fünf Minuten, so etwas haben wir noch nie in unserem Leben erlebt. Luftalarm, nach Luftalarm und Raketenabfang nach Raketenabfang. Irgendwann hörte meine Mutter Schreie durch eine Art Megaphon: “Terroristen haben den Kibbuz infiltriert!” Wir öffneten die WhatsApp des Kibbuz und sahen dort die Nachricht: “Es gibt eine Infiltration, verriegelt die Häuser, macht das Licht aus, geht in die sicheren Räume und schließt die Tür ab.” Alle waren schockiert über diese Nachricht. Ich auch.

Nach einiger Zeit, hörten wir Schreie auf Arabisch, wirklich lautes Geschrei, vor unserem Fenster. Dann hörten wir, wie die Terroristen in unser Haus eindrangen, wir hörten ihre Schritte. Sie erreichten die Tür unseres Schutzraumes und fingen an zu schreien: “Iftah al-Bab! Iftah al-Bab!”.  Mein Vater und Carmel hielten die Tür und die Türklinke fest. Sie hämmern an die Schutztüre und schreien, brüllen total. Dann sagt mein Vater auf Arabisch zu ihnen, dass hier Kinder sind. In der Sekunde, in der er das sagt, schießen sie auf die Tür und die Kugeln durchdringen die Bunkertür und treffen Carmels Hand. Die Schüsse rissen seine Hand buchstäblich weg.

Das Massaker im Kibbuz Be’eri:  98 Kibbuzmitglieder wurden ermordet, weitere 32 in den Gazastreifen verschleppt. Foto: Yonatan Sindel/Flash90

“Sie warfen drei Handgranaten”

Meine Mutter ist Kindergärtnerin, deshalb hatte sie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. So wusste sie, wie man ein Tourniquet legt. Also schnürten wir zusammen Carmel ein Tourniquet. Die Terroristen schreien uns wieder an, dass wir die Tür öffnen sollen, dann schießen sie wieder auf die Tür und diesmal verletzen sie meinen Vater. Sie treffen seine Beine, und mein Vater stürzt zu Boden. Die Terroristen versuchen, die Tür zu öffnen, aber sie können es nicht. Sie müssen den Mechanismus der Klinke beschädigt haben, sodass sie sie überhaupt nicht öffnen konnten. Die Hände meines Vaters, waren unverletzt, sodass er in der Lage war, sich selbst ein Tourniquet zu binden. Und während er sich um sich selbst kümmerte, fingen sie an, unser Haus niederzubrennen, von innen.

Jedes Mal, wenn das Feuer erlosch, zündeten sie es wieder an. Der ganze Raum füllte sich mit schwarzem Rauch, man konnte nichts sehen und wir konnten nicht atmen. An einem bestimmten Punkt beschlossen die Terroristen, durch das Fenster des Schutzraumes zu uns zu kommen. Sie warfen einen Ziegelstein, dann noch einen, und bei dem zweiten Wurf hatte das Fenster bereits ein Loch. Dann fingen sie an, Handgranaten in den Raum zu werfen. Sie warfen drei Granaten. Sie sahen nicht, wo wir waren, denn der ganze Raum war voller Rauch. Die Granaten blieben in der Couch stecken, ich bekam einen Granatsplitter in mein Bein, mein Vater bekam einen in den Bauch und meine Mutter in ihre Hand, nichts Ernstes.

Dann steckte einer der Terroristen sein Gewehr durch das Fenster und feuerte mehrere Kugeln hinein, eine Kugel traf meine Mutter, sie traf sie in die Lunge. Meine Mutter fiel zu Boden und sackte zusammen. Alle vier von uns waren verwundet, aber ich war in guter Verfassung. Also nahm ich die Handys von allen und fing an, Nachrichten an jeden zu senden, den ich kannte: “Wir brauchen jemanden, der kommt und uns rettet, dringend, drigend, Carmel kann nicht atmen, bitte schickt jemand.”

“Zieh die Mama aus! Suche nach einer Verletzung!”

Ich rief den Notdienst an und sie sagten mir, dass sie den Kibbuz nicht betreten könnten. Ich rief die Kibbuz-Security an und er antwortete nicht – ich wusste nicht, dass er damals schon tot war. Ich bekam einen Anruf vom Notdienst, der sagte: “Zieh die Mama aus! Suche nach einer Verletzung!” Also zerriss ich ihre Kleider und suchte nach einer Verletzung aber ich sah nichts. Sie und Carmel sagten immer wieder: “Wir lieben Euch”. Sie wurden langsam blasser und Carmel bat uns, ihn mit seinem Surfbrett zu beerdigen. Das taten wir, wir begruben ihn mit seinem Surfbrett.

Zu diesem Zeitpunkt legten wir uns auf den Boden, der Raum war immer noch voller Rauch. Unsere Nasenlöcher waren schwarz, aber auf dem Boden war es leichter zu atmen. Wir lagen nebeneinander und ich versuchte, Mamas Nase zu säubern, da ich merkte, dass sie nicht mehr atmen kann. Sie fing an zu flüstern “Ich habe nichts gegen irgendjemanden, ich habe nichts gegen irgendjemanden.” Dann ist sie einfach gestorben. Ich rufe den Notdienst an und sie sagen: “Überprüfe ihren Atem”, aber da ist kein Atem. Dann sagt Papa: “Mama leidet nicht mehr, alles ist in Ordnung. Jetzt konzentrieren wir uns auf Carmel.”

Irgendwann habe ich mir auch ein Tourniquet an mein Bein gelegt. Ich habe auch selbst viel Blut verloren, von den vielen Granatsplittern. Dann kamen sie zurück und legten wieder ein Feuer. An diesem Punkt verbrannte ich mich an meinen Beinen, weil meine Beine zu nahe an der Tür waren. Carmel und mein Vater verloren ständig das Bewusstsein. Ich sagte ihnen immer wieder: “Wacht auf! Wacht auf! Kommt zu Bewusstsein”. An einem Punkt fing Carmel an zu röcheln, sein Atem war seltsam, und ich sagte: “Carmel, hör zu, Du kannst jetzt nicht so röcheln! Es sind Terroristen draußen, wenn sie uns hören, werden sie den Schutzraum aufbrechen, uns herausholen und entführen oder sie werden eine Granate werfen und wir werden sterben.”

Carmel und seine Mutter Dana überlebten den Angriff auf den Kibbuz nicht. Foto: Remember Beeri-Webseite

„Papa, du lässt uns nicht allein, so können wir nicht leben!”

Nach ein paar Minuten wurde sein Atem immer kürzer und auch er verstarb. Ich versuchte, ihn hochzuheben um ihn wiederzubeleben, aber ich hatte keine Kraft mehr in den Händen. Ich hatte zu viel Rauch eingeatmet, ich war zu schwach. Mein Vater sagte wieder: “Hadari, Mama und Carmel leiden nicht mehr, jetzt konzentrieren wir uns auf uns.” Dann schickte ich weitere Nachrichten: “Mama und Carmel sind tot, ich will nicht sterben, bitte kommt jetzt.”

Dann wurde endlich ein Panzer geschickt. Wir hörten die Soldaten im Haus und Papa versuchte nach ihnen zu rufen, aber er hatte keine Kraft mehr zu schreien. Es ging ihm nicht gut, er verlor immer wieder das Bewusstsein. Ich rief ihm immer wieder zu, sodass er aufwachte: “Papa, du lässt uns nicht allein, so können wir nicht leben!” Dann hörte ich Soldaten. Ich schrie nach ihnen und sie kamen zu uns. Sie sahen das ganze Blut im Raum und sie waren sich sicher, dass wir alle tot waren.”

Hadar und ihr Vater in einem Hotel am Toten Meer. Nach dem tödlichen Angriff wurden die Überlebenden aus ihren Häusern evakuiert. Foto: Yossi Zamir/Flash90

Hadar und ihr Vater wurden nach 12 Stunden aus dem Inferno in Be’eri gerettet. Hadar überlebte schwer verletzt, ihrem Vater wurde bei einer Notoperation das Bein amputiert. Hadars Tagebuchauszug ist Teil des Buches “One Day in October – Vierzig Helden, vierzig Geschichten”. In dem Monologprojekt,  das von den Schriftstellern Yair Agmon und Uriah Mevorach aufgesetzt wurde, beschreiben 40 mutige Helden den grausamen Angriff und wie sie die Kraft fanden, zu überleben. Ein Teil des Gewinns aus dem Verkauf des Buches wird für den Wiederaufbau der westlichen Negev-Gemeinden gespendet.

Titelbild: Familie Bahar zu glücklichen Zeiten. Die Mutter und Carmel (Mitte) überlebten den Angriff nicht. Hadar erzählt mutig über die traumatischen Stunden. Foto: privat

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